Sonnenwende
entschuldigte sich. Vor der Tür ihres Nachbarn biss sie sich ein weiteres Mal auf die Unterlippe, ihre Beine liefen im |143| Geiste weiter die Stufen hinauf. Dabei war sie doch nur eine Nachbarin, die sich in den Finger geschnitten hatte und um Verbandszeug bat. Halt die Beine still, und sei nicht so kindisch!
Ada war verwirrt.
So
hatte sie ihn sich nicht vorgestellt. Sie erinnerte sich an ein Foto von Gustav Mahler aus einem Schulbuch. Jeder Winkel dieses Gesichts hatte bei ihr Mitgefühl hervorgerufen. Etwas in der Art hatte sie erwartet. Jedenfalls nicht diesen Hünen, der ihr in Unterhose die Tür öffnete und den ganzen Rahmen ausfüllte, mit einem Körper wie aus der Reklame und einem Gesicht wie eine Axt. Ungefähr sechs Sekunden lang geschah gar nichts, außer dass Ada sich diesem halbnackten Mann gegenüber zunehmend unbehaglicher fühlte, dem das aber gar nicht peinlich zu sein schien. Langsam zog er eine Augenbraue in die Höhe.
»Meine Hand«, sagte Ada eilig. »Ich hab’ mir in den Daumen geschnitten. Ich wollte Tomaten … Hätten Sie etwas Verbandszeug für mich?«
»Massig. Benutze ich fast täglich. Komm rein.«
Sie betrat seine Wohnung wie eine Kirche. Es war sauber – und überall gab es Bücher. Die Wohnung war voll davon.
»Sie haben aber viele Bücher.«
»Hm? O … ja. Viele Bücher, allerdings. Setz dich, ich hol’ Verbandszeug.«
Er verschwand um die Ecke. Seine Stimme drang aus dem Bad: »Ich hab’ gerade Kaffee aufgesetzt, willst du auch einen?«
»Ich mag Kaffee«, rief sie.
Kurz darauf erschien er mit einer großen Metallkiste. Erleichtert nahm Ada zur Kenntnis, dass er sich ein T-Shirt und eine Hose angezogen hatte. Er mahlte den Kaffee mit einer kleinen elektrischen Mühle, es roch verführerisch.
»Mögen Sie auch so gerne den Geruch von frischem Kaffee?«
|144| »Keine Ahnung, frisch gemahlen schmeckt er einfach besser. Zeig mal deine Hand.«
Daran hatte sie in der Hektik gar nicht gedacht! Er würde sie anfassen. Natürlich, er musste sie ja anfassen, wie sollte er sonst den Daumen verbinden? Manchmal war sie wirklich zu dumm, so unüberlegt. Was sollte sie denn jetzt nur tun? Kaum jemals hatte ein Mann sie anfassen können, ohne dass es nicht wenigstens unangenehm gewesen wäre. Oft genug war es unerträglich, als verbrenne ihre Haut. Sogar, wenn sie es eigentlich wollte. Mit Frauen, das war etwas anderes. Bei ihrer Friseurin zum Beispiel, da war es ihr nicht unangenehm. Ada und sie hatten eine stumme Übereinkunft; sie würde ihr niemals weh tun.
Es ging. Bei der ersten Berührung schreckte sie zurück, aber dann ging es. Er konnte sie anfassen, es war nicht schlimm. Er musste besondere Hände haben. Hände, die Noten in Melodien verwandelten und Schmerz in Träume. Vor Aufregung bekam sie Gänsehaut.
»Alles klar?«, fragte er.
»Jaja. Keine Sorge, ich werde nicht ohnmächtig.«
Er wickelte vorsichtig das Handtuch ab und hielt mit der freien Hand ihren Arm. »Bist du sicher, dass du das nicht lieber nähen lassen willst?«
»Es wird so gehen.«
Vorsichtig drückte er daran herum.
»Wie du meinst. Also, ich desinfizier’ das jetzt, und dann mach’ ich dir einen kleinen Verband drum.«
»Ja, vielen Dank.«
Er kramte in seiner Kiste und legte nacheinander sorgsam auf den Tisch, was er dafür benötigte. Das Desinfektionsmittel war dasselbe, das sie im Krankenhaus benutzten. Bevor er nach der Flasche griff, zog er sich Handschuhe über, so wie Ada es bei der Arbeit tat. Sie war ein bisschen beleidigt, denn |145| so sah es aus, als hätte sie AIDS, aber es zeigte ihr auch, dass er auf Sauberkeit Wert legte, und das war gut.
»Wird brennen.«
»Ich weiß. Ist nicht schlimm.«
Sie beobachtete, wie er ihren Daumen versorgte. Sie hatte recht gehabt, er wusste, was zu tun war. Besser hätte es ein Arzt auch nicht machen können. Wahrscheinlich wusste er in jeder Situation, was zu tun war. Sie nahm all ihren Mut zusammen, wer wusste, ob sie es noch einmal wagen würde, an seiner Tür zu klingeln: »Sie haben gerade Klavier gespielt, nicht?«
»Na ja. Also eigentlich …«
»… Was Sie zuletzt gespielt haben … also, das Stück eben …«
Sie hoffte, er würde ihr den Faden aus der Hand nehmen, doch er sagte nur: »Hm?«
»Also, das war sehr schön. Ich meine, wirklich schön. Etwas ganz Besonderes.«
So, nun war es raus, und er war dran.
»Ravel. Die Pavane für eine tote Infantin.«
Sie sah verständnislos zu ihm auf.
Wladimir: »Ravel. Maurice mit
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