Sonst kommt dich der Jäger holen
Erika.
»Und das vorne dran?«
»Deandln? Dirndl, Dirnen, also Mädchen.«
»Dirnen sind Mädchen?«
»Nein, das heißt, ja«, grinste ich.
»Herr Wirt, das Geselchte zu mir!«, bestellte Erika kurz darauf. Ich ärgerte mich, dass ich es nicht unappetitlicher übersetzt hatte. Bei Gselchtes bot sich allerlei an, handgedrechselter Ziegenpenis zum Beispiel. Ich wollte so schnell wie möglich in mein Bett und vor allem: zu Flipper. Ich fühlte mich halb und beunruhigt ohne Flipper. Außerdem war die Alpin Lodge Hubertus keine vertraute Umgebung für ihn. Womöglich litt er an Einsamkeit.
Später begriff ich, warum ich das alles dachte. Ich war hochgradig alarmiert – mein Unterbewusstsein schrie Gefahr – doch ich konnte die Nervosität nicht einordnen. Wir bekamen einen Holzteller Speck und Brot und ein Stamperl.
»Is doch griabig, oda?«, wurde Erika von ihrem Nachbarn gefragt und fragte mich »Was meint der Herr?«
»Zümpftig!«
»Ja, knorke kriebich«, bestätigte sie.
Mit der fettigen Grundlage des Gselchten im Magen kippte ich das Schnapserl und dachte dabei noch, dass all dieses Prozentige immer verniedlicht wird. Das Bierchen, das Weinchen, das Schnapserl. Das war mein letzter Gedanke als Franza Fischer normal. Dann ging Erika zur Toilette, und ein sehr dicker Mann bahnte sich seinen Weg durch die engen Reihen und riss dabei ihren Rucksack von der Stuhllehne. War er offen gewesen oder ratschte er auf? Nichts ahnend sammelte ich ihre Habseligkeiten ein. Trinkflasche, Energieriegel, Taschentücher, ein kleines Büchlein – da wunderte ich mich schon. Noch mehr wunderte ich mich, als ich den Titel nicht lesen konnte. Was wiederum nicht verwunderlich war, denn das Buch war ein russisches. Als ich es zurücksteckte, fielen zwei Personalausweise heraus. Der eine lautete auf Dr. Erika Falk und der andere auf Lena Martin, und auf beiden Ausweisen erkannte ich das viereckige Konterfei meiner Sportkameradin, die soeben neben der Theke auftauchte und sich mühsam einen Weg zwischen den Leuten hindurchbahnte, in ein Gespräch verwickelt wurde, mir den Rücken zudrehte. Mit zitternden Händen verstaute ich alles.
»Wie siehst du denn aus?«, grinste sie mich an.
»Ich vertrag kein Alkohol«, stammelte ich und fühlte die Kälte der Leichenblässe, die sich in meinem Gesicht ausbreitete.
»Na, dann gehen wir besser an die frische Luft?«, gab Erika?, Lena?, sich mitfühlend.
»Du kannst ruhig noch bleiben«, erwiderte ich das, was mir am liebsten war, und stand auf.
»Ich lass dich doch nicht im Stich«, erwiderte sie.
Stich, hörte ich. Wo hatte sie ihr Messer versteckt? In den Schuhen? An ihrer feisten Wade? Schlagartig war mir alles klar. Ich sollte von Flipper getrennt werden, damit sie freie Bahn hatten. Flipper war allein in dem Hotelzimmer, in Todesgefahr.
»Warte!«, rief Erika.
»Jetzt zeig mal, was du draufhast!«, forderte ich sie vor der Hütte auf – der Mond riss den Himmel in Fetzen – und hoffte, dass sie die verzweifelte Entschlossenheit in meiner Stimme überhörte. Ich musste sie in Sicherheit wiegen, so lange wie möglich, und außerdem musste ich schneller sein als sie, denn sie war bewaffnet. Daran zweifelte ich keine Sekunde.
Angst beflügelt. Liebe erst recht. Ich flog den Weg nur so hinab. Erikas Keuchen in meinem Rücken trieb mich an; ich vergaß jegliche Vorsicht, sprang über Stock und Stein, hoch konzentriert, gerade ich, die ich mich fürchte vor Löchern im Boden und lockerem Gestein, weil eine verletzungsbedingte Pause mich in das finanzielle Desaster foulen würde. Ich rannte um mein Leben, ich rannte für Flipper und absolvierte den Lauf aller Läufe. Das Keuchen in meinem Rücken wurde leiser, oder wurde bloß mein eigenes lauter; ich hörte nur noch mich, rhythmisch wie eine Maschine, deutsche Ingenieursleistung, pumpte mein Herz stark und kräftig, meine Lungen füllten meinen geweiteten Brustkorb, lang meine Sprünge und sicher mein Tritt. Flipper entgegen. Gleich bin ich bei dir! Ich wagte die Abkürzung durch das ausgetrocknete Bachbett, die Kiesel klackerten Applaus, und da riss der Mond den Vorhang auf und tauchte meinen Einlauf in die Zielgerade des Tals in ein kühles Flutlicht.
*
Im Neonlicht sahen sie alle krank aus. Nur der Häuptling nicht. Rot leuchtete sein Gesicht. Sein Team rechnete seit Jahren damit, dass ihn sein Bluthochdruck eines Tages killen würde. Bislang hatte er mehrere von ihnen überlebt.
Ein Mitarbeiter von der Technik hob die Hand.
Weitere Kostenlose Bücher