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Sonst kommt dich der Jäger holen

Sonst kommt dich der Jäger holen

Titel: Sonst kommt dich der Jäger holen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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der neben mir saß, war neu für mich. So traurig kannte ich ihn nicht, vielleicht sogar einsam – und alle Zugbrücken oben. Trotzdem war er zu mir gekommen. Nicht zu mir, korrigierte ich, zu uns.
    »Ich hab nicht gewusst, wohin«, sagte er da plötzlich, und auch seine Stimme klang anders als sonst, dunkler, leiser.
    Er hat jemand erschossen, ging es mir durch den Kopf.
    »Natürlich hätte ich irgendwohin gekonnt«, räumte er ein.
    Ich nickte, während ich überlegte, was man zu einem sagte, der mit einer kleinen Krümmung des Zeigefingers ein Leben ausgelöscht hatte. Gänsehaut schauderte meinen Rücken hinab. Als Geliebte eines Kommissars sollte ich das passende Verbandszeug im Repertoire haben, doch mir fielen nur Gemeinplätze für Alltagsnöte ein. Das wird schon wieder, morgen sieht alles anders aus, du kannst nichts dafür, du musstest das tun, es ist dein Beruf, die Welt ist ohnehin überbevölkert. Nein, ich war nicht vorbereitet. Flipper natürlich schon. Ihn überforderte keine Situation, weil er auf einer anderen Ebene kommunizierte. Ich wünschte mir, er würde mich dorthin mitnehmen. Ich wollte nichts Falsches sagen, doch ich musste zum Glück erst mal gar nichts sagen, da Felix fortfuhr. »Es ist nicht so, dass ich sonst niemanden kennen würde.« Er atmete tief aus. »Es ist nur so, dass ich jetzt am liebsten zu dir gekommen bin.«
    »Das freut mich«, erwiderte ich, auch wenn mir klar war, dass Freude in diesem Zusammenhang ein völlig falscher Begriff war. Doch wenn er einen Menschen erschossen und somit entsetzliches Leid über dessen Angehörige gebracht hatte, tat es vielleicht gut, dass es jemanden gab, der sich über ihn freute. Mich. Und Flipper. Felix beugte sich nach vorn und streichelte Flippers Hals. Ich beugte mich auch ein wenig vor und streichelte Flippers Kopf. Flipper blieb ruhig liegen, obwohl ihm das wahrscheinlich nicht leichtfiel. Er hasst so was und ließ uns dennoch gewähren. Minutenlang streichelten wir an ihm rum und da berührten sich unsere Finger schon mal versehentlich. Schöne Hände hatte mein Kommissar. Bronzeteint.
    »So ein Hinterhof hat Atmosphäre«, sagte er irgendwann.
    Ich stimmte ihm zu. »Ja.«
    Normalerweise hätte ich ihm jetzt erzählt, wie es hier ausgesehen hatte, ehe meine Nachbarin mit dem grünen Daumen, Frau Marklstorfer, eingezogen war, doch das schien mir unpassend. Alles erschien unpassend angesichts seiner Verfassung.
    »Wo ich vorher gewohnt habe, da war es auch sehr schön draußen. Mit Garten. Jetzt hab ich nur den kleinen Balkon. Und wer weiß, wie lange ich da überhaupt noch wohne.«
    Hatte er doch keinen erschossen? War ihm die Wohnung gekündigt worden? Wollte er mich fragen, ob er bei mir einziehen konnte?
    »Suchst du eine Bleibe?«, fragte ich, so locker mir das möglich war, während mein Herz Stakkato schlug, denn was sollte ich ihm antworten?
    »Nein, nein«, wehrte er ab. »Also nicht aktuell. Früher oder später schon. Ist ja nur eine Übergangslösung in der Rothmundstraße. Viel zu weit weg von meiner Dienststelle.«
    Jetzt hätten wir darüber sprechen können, dass ich im Frühling auch fast umgezogen wäre, dass mit meinem Spleen, in das Haus des Mordopfers zu ziehen, alles begonnen hatte, doch das war abermals kein Thema für einen, der gerade jemanden erschossen hatte.
    »Wollen wir reingehen?«, bot ich ihm an.
    Er zögerte kurz, dann stand er auf. Flipper sprang sofort auf die Beine, schüttelte sich und lief schon mal vor zu seinem Napf. Zum ersten Mal schauten wir uns bewusst an. So ernst hatte ich Felix noch nie gesehen. Und das Schlimme war, dass ich ihn auch noch nie so sehr begehrt hatte wie in diesem Moment, in dem er gar nicht richtig da war. Sein blauer Blick hatte sich in eine innere Welt zurückgezogen, in die ich ihm nicht folgen konnte. Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich ihn noch genauso mochte wie vorher, dass sich durch seine Tat nichts änderte für mich. Auch wenn ich lieber nicht wissen wollte, wie es sich anfühlte, wenn man einen Menschen erschossen hatte, so war mir bewusst, dass es keine große Überwindung kosten musste. Auch ich hätte denjenigen, der mir das Messer in den Leib gestoßen hatte, erschießen können. Seither habe ich ein anderes Verhältnis zu mir selbst. Und zu meinen Mitmenschen.
    Ich sperrte die Tür auf, Felix setzte sich aufs Sofa, stand wieder auf, schritt zum Fenster, schaute hinaus, öffnete die Terrassentür.
    »Ich gebe Flipper mal sein Abendessen«, sagte ich. Ich

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