Sophie Scholl
Gefängnis-Kontakten erfuhr, dass man Christoph Probst eingeliefert hatte, war sie tief bestürzt. Sie hatten den Familienvater doch extra aus ihren Aktionen herausgehalten, um ihn auch nicht der geringsten Gefahr auszusetzen.
Sophie Scholls Reaktion auf die Verhaftung von Christoph Probst am Samstag ist ein Beweis unter anderen, dass sie und Hans Scholl am Donnerstagmorgen in der Universität kein öffentliches Fanal provozieren wollten. Vielleicht hatten sie weiterhin die Hoffnung, zumindest einzelne Zeitgenossen, vor allem unter den Studenten, mit den Flugblättern aufzurütteln und zum Widerstand, sei er noch so klein, zu bewegen. Vielleicht stand auch im Vordergrund – je nachdem, was Otl Aicher ihnen am Abend zuvor per Telefon mitgeteilt hatte –, die gefährlichen Beweisstücke so schnell wie möglich loszuwerden.
Eigentlich alles an diesem Vormittag spricht gegen überlegtes, lange geplantes Handeln und für eine spontane Aktion, nicht zuletzt die unübersehbaren Spuren, die sie in der Wohnung hinterließen, und Christoph Probsts Flugblatt, das achtlos in Hans Scholls Manteltasche steckte. Das kann man Leichtsinn nennen, Naivität und eine unglaubliche Unterschätzung des Risikos, das Sophie und Hans Scholl mit dem Auslegen der Flugblätter am helllichten Tag eingingen. Sie waren durch keinen Aufpasser abgesichert wie bei den vorherigen nächtlichen Aktionen. Sie hatten offensichtlich keine Fluchtmöglichkeiten abgesprochen.
Hans Scholl liebte spontane Aktionen, auch gute Freunde charakterisierten ihn als unausgeglichen, immer auf der Suche, Neues zu unternehmen, bei allem Charisma eher ein Getriebener. Auch die Schwestern Inge und Sophie sahen schon lange kritisch auf seine Umtriebigkeit. Aber für Hans Scholl wie für Sophie Scholl gingen Verlässlichkeit und freundschaftliche Bindungen über alles. Niemals hätten sie bewusst ihre Freunde der Gefahr ausgesetzt, in die etliche durch die Universitäts-Aktion gerieten. Wäre eine spektakuläre Heldentat geplant gewesen, hätten Sophie und Hans Scholl zuvor alle Spuren sorgfältig verwischt.
Die letzte Ungewissheit ist nicht aufzulösen, denn nur die Geschwister selbst könnten sie beseitigen. Aber das Gewicht der Argumente spricht dafür, dass die beiden überzeugt waren, auch diesmal das Risiko zu meistern oder – wenn sie erwischt würden –, die Freunde aus allem heraushalten zu können. Sie lagen ja so falsch nicht damit, bis zu dem Wendepunkt, den Sophie Scholl während des Verhörs beschreibt. Wären die Blätter nicht über zwei Etagen ins Erdgeschoss geflattert, hätte der Hausschlosser nichts gemerkt, wären Sophie und Hans Scholl ruhigen Schrittes die Treppen hinunter gegangen und durch den rückwärtigen Ausgang der Universität verschwunden.
Dass Sophie Scholl am 18. Februar 1943 keinen öffentlichen Opfergang antreten wollte, dafür gibt es auch sehr persönliche Hinweise. In ihren Briefen der letzten Wochen bricht unüberhörbar die Hoffnung für eine neue Zukunft auf, die nicht mehr fern ist. Die »farbenreichen Zukunftsträume«, von denen sie Fritz Hartnagel erzählt, sind ernst gemeint. »Vielleicht können wir bald zusammen irgendwo anfangen!« heißt es am 16. Februar, zwei Tage vor der Flugblatt-Aktion. Den Bruder Werner ermutigt sie: »bleib solange gesund« – der Krieg ist bald aus. Die Sehnsucht nach dem Frühling, die sie bei der Musik des »Forellenquintetts« ergreift, und die sie am 17. Februar in ihrem allerletzten Brief, der an Lisa Remppis geht, intensiv und fröhlich in Worte fasst, ist nicht gespielt. Sophie Scholl will leben.
Ob ihr die spontane Idee des Bruders für den Donnerstagmorgen zu wenig durchdacht war, weil sie Ordnung und einen kühlen Kopf schätzte? Möglicherweise. Doch darüber zu grübeln ist müßig. Auch wenn diese Aktion in »Übermut und Dummheit« endete, Sophie Scholl stand fest dahinter. Sie hielt zu ihrem Bruder. Alles andere wäre ihr wie Verrat vorgekommen, gerade weil es um Leben oder Tod ging. Und sie stand zu dem, was die Flugblätter verkündeten: Die Politik der Nationalsozialisten führt Deutschland in den Untergang, sie ist ein Verbrechen von europäischem Ausmaß; nur wenn die Deutschen sich selbst davon befreiten, würden sie die Achtung der Völker zurückgewinnen. Für Sophie Scholl war es eine Sache der Moral und der Politik, des Denkens und des Handelns. Darum kann sie dem Gestapo-Mann Robert Mohr ohne Zögern und geradeheraus sagen: Mit dem Nationalsozialismus will ich
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