Sophie Scholl
durch das Fallbeil rechnen muss? Der Rechtsanwalt ist entsetzt, weicht einer Antwort aus. Sophie Scholl macht sich nichts vor. Um Recht und Gerechtigkeit wird es in diesem Prozess nicht gehen.
In Ulm sind an diesem Sonntag in der Wohnung am Münsterplatz weiterhin Lina und Robert Scholl, ihre Kinder Werner und Inge und Traute Lafrenz zusammen. War es der Sonntag oder vielleicht schon der Samstag, als Werner Scholl seine Mutter bittet, etwas aus der Bibel vorzulesen? Eine irrelevante Frage. Lina Scholl wählt das 2. Buch der Makkabäer, das zu den sogenannten Apokryphen gehört. Die Apokryphen sind Schriften, die in den lateinischen und griechischen Übersetzungen, aber nicht in der hebräischen jüdischen Bibel stehen. Martin Luther fand sie »nützlich und gut zu lesen« und hat sie ebenfalls ins Deutsche übersetzt. Das 2. Makkabäerbuch erzählt im 7. Kapitel die Geschichte vom König Antiochus IV., der Jerusalem zerstört und den Tempel plündert. Er nimmt eine jüdische Mutter mit sieben Söhnen gefangen und befiehlt den Söhnen, Schweinefleisch zu essen. Der älteste Sohn antwortet im Namen seiner Brüder, sie wollten eher sterben, als gegen das göttliche Gesetz zu handeln.
Einer der Söhne nach dem anderen verweigert sich dem Befehl des Königs und wird auf grausame Weise gemartert und hingerichtet. Schließlich ist nur noch der Jüngste am Leben. Als er sich ebenfalls weigert, befiehlt der König der Mutter, ihr Kind zu seinem Besten zu überreden. Und Lina Scholl liest, was die Mutter im Beisein des verbrecherischen Königs zu ihrem jüngsten Sohn sagt: »Ich bitte dich, mein Kind, sieh Himmel und Erde an und alles, was darin ist, und bedenke: dies hat Gott alles aus nichts gemacht, und wir Menschen sind auch so gemacht. Darum fürchte dich nicht vor diesem Henker, sondern nimm den Tod auf dich wie deine Brüder, damit dich Gott zur Zeit des Erbarmens samt deinen Brüdern mir wiedergebe.« Die Mutter wusste, dass sie mit der Aufforderung zur Standhaftigkeit auch ihr Leben verwirkt hatte. »Zuletzt, nach den Söhnen«, heißt es im 2. Buch der Makkabäer, »wurde auch die Mutter hingerichtet.«
Irgendwann an diesem Sonntag klingelt bei den Scholls das Telefon. Der Anrufer nennt seinen Namen nicht, sagt nur, dass morgen, Montag früh, der Prozess gegen Hans und Sophie im Münchner Justizpalast stattfinden wird. Eine erschreckende Nachricht. Die Eile, die das nationalsozialistische Justizsystem an den Tag legt, ist verräterisch. Trotzdem: Bei aller Betrübnis gibt es endlich einen Anhaltspunkt, der die Passivität durchbricht. Irgendwann an diesem Tag wird beschlossen, dass die Eltern und Werner am nächsten Morgen nach München fahren. Und Lina Scholl tut, was sie immer tat, wenn eins ihrer Kinder – oder ein Mensch, der ihr nahe stand – auf Reisen ging oder wenn sie ein Päckchen verschickte. Das ist die Erinnerung von Traute Lafrenz: »Ich weiß noch, dass wir abends zusammen Plätzchen backten, und während wir die Kekse ausstachen, sagte Hans’ Mutter zu mir: ›Weißt du, man tut eigentlich immer zu viel für seine eigenen Kinder und nicht genug für andere.‹ Das war irgendwie typisch für sie.« Was für Traute Lafrenz »Plätzchen« waren, sind für die Schwaben »Brödle« oder »Gutsle«. Viele Male hat sich Fritz Hartnagel, seit er im Krieg war, bei Sophie Scholl – und ihrer Mutter – bedankt für Brödle und Gutsle, die selbst im tiefsten Russland an der Front ein tröstliches heimatliches Gefühl vermittelten.
22. Februar, Montag – Am Morgen besteigen Lina und Robert Scholl und Werner Scholl, natürlich in Uniform, den Zug nach München. Auch Traute Lafrenz fährt mit zurück. Am Bahnhof in München wartet in Uniform Jürgen Wittenstein, ein Medizinstudent aus der Studentenkompanie von Hans Scholl und Alexander Schmorell, mit beiden befreundet. Er hat gestern anonym in Ulm angerufen und kein Problem, die Scholls unter den Ankommenden zu entdecken, zumal er auch Traute Lafrenz kennt. Sie geht erst einmal ihre eigenen Wege. Wittenstein drängt die Scholls zur Eile, der Prozess sei schon in vollem Gange. Die Strecke vom Bahnhof zum Justizpalast kann in zehn Minuten zu Fuß zurückgelegt werden.
Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst waren gegen 9 Uhr in einem Pkw vom Gestapo-Quartier in der Brienner Straße zum Justizpalast in der Prielmayerstraße gefahren worden. Gefesselt wurden sie in den hohen holzgetäfelten Saal 216 des Schwurgerichts geführt. Links vom erhöhten
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