Sophie Scholl
Richtertisch ist die abgeteilte Bank der Angeklagten, die quer zum Zuschauersaal steht. Der Saal war an diesem Morgen gefüllt mit »geladenem« Publikum aus nationalsozialistischen Organisationen, viele Zuschauer trugen Uniform. Dreieinhalb Tage hatte sich Sophie Scholls Leben ausschließlich im Verhörzimmer und in der Zelle abgespielt, fern vom Getriebe der Welt. Jetzt musste sie den Zusammenprall mit der Hektik, dem Lärm der Stadt, den Menschen aushalten; und mitten in dieser Öffentlichkeit einen ganz privaten Moment, der nicht ohne Erschütterungen sein konnte: ein Wiedersehen mit ihrem Bruder und ebenso mit Christoph Probst, das keine Berührungen erlaubt und keine Worte, nur die Blicke der Augen, die sich begegnen. War es nicht erst vor wenigen Tagen, dass sie fröhlich in der Franz-Joseph-Straße gesessen, Tee getrunken und Lieder gesungen haben? Pläne geschmiedet für die Zeit nach dem Krieg, wenn dieser Alptraum vorbei sein würde? Tage – oder vielleicht doch eine Ewigkeit?
Ein Wirbel von Gedanken und Gefühlen: sind sie ein Schutz gegen die Menschen ringsum, deren Augen auf sie gerichtet sind, während man ihnen in einer Reihe die Plätze auf der Anklagebank zuweist, jeweils ein Polizist zur Rechten und zur Linken? Oder machen sie es noch schwerer, die Fassung zu bewahren, aufrecht zu stehen, sich in einen inneren Schutzraum zurückzuziehen, als in roter Robe und schwarzem Barett Roland Freisler, der Präsident dieses Gerichtes, mit seinen Beisitzern und dem Oberreichsanwalt durch die Tür in der Wand hinter dem Richtertisch in den Saal kommt und Platz nimmt?
Welcher Gegensatz zum ruhigen Morgen in der Zelle, als Sophie Scholl nach dem Aufwachen Else Gebel ihren Traum erzählte. Es war ein schöner Tag und sie habe ein Kind im weißen Taufkleid einen steilen Berg hinaufgetragen. Plötzlich tat sich eine Gletscherspalte auf. Sophie Scholl legte das Kind auf die gegenüberliegende Seite, dann stürzte sie in die Tiefe. Nach Else Gebel hat Sophie Scholl gleich ihre Traumdeutung angefügt. Das Kind symbolisiere die Idee, für die sie, ihr Bruder und Christoph Probst stehen. Die Idee wird sich durchsetzen. Doch sie, die Wegbereiter, müssen vorher sterben. Als Roland Freisler den Prozess eröffnet, macht sich Sophie Scholl keine Illusionen. Das Urteil über sie und ihren Bruder steht schon fest. Sie hofft nur inständig, dass Christoph Probst noch eine Chance hat.
Es gibt nur einen Augenzeugen des Prozesses, der seine Erinnerungen aufgeschrieben hat. Der Jurist Leo Samberger, damals Gerichtsreferendar, hört zufällig am Montagmorgen bei seinem Zigarettenhändler in der Nähe des Justizpalastes, dass mehrere Studenten vor Gericht stehen. Er eilt in den Gerichtssaal, der dicht besetzt ist. Es ist gegen 10 Uhr 30, die Verhandlung läuft. Und das ist sein Eindruck aus der Erinnerung:
»Was mich erschütterte, war, dass die Angeklagten, obwohl ich sie nicht persönlich kannte, mir wohlvertraute Gesichter waren aus den Münchner Konzertsälen, in denen gerade in jenen Jahren so viele Menschen bei der Musik Haydns, Mozarts und Beethovens Stärke und Zuflucht suchten. Die Haltung der Angeklagten machte wohl nicht nur mir einen tiefen Eindruck. Da standen Menschen, die ganz offensichtlich von ihren Idealen erfüllt waren. Ihre Antworten auf die teilweise unverschämten Fragen des Vorsitzenden, der sich in der ganzen Verhandlung nur als Ankläger aufspielte und nicht als Richter zeigte, waren ruhig, gefasst, klar und tapfer.« Roland Freisler agierte am 22. Februar 1943 so, wie er als Richter in den Prozessen gegen die Männer des 20. Juli 1944 in die Geschichte eingegangen ist – »tobend, schreiend, bis zum Stimmüberschlag brüllend, immer wieder explosiv aufspringend«.
Pro forma ergreift der Ankläger, Oberreichsanwalt Albert Weyersberg, ebenfalls aus Berlin angereist, das Wort. Er plädiert auf Todesstrafe für alle drei Angeklagten. Die Pflichtverteidiger setzen dem keine Argumente entgegen. Inzwischen haben Lina und Robert Scholl im Gedränge noch Einlass in den Gerichtssaal gefunden, sehen schräg gegenüber ihre Kinder auf der Anklagebank. Neun Tage zuvor, am 14. Februar, hatte Sophie Scholl von ihnen in Ulm gut gelaunt Abschied genommen. Sie werde schon das nächste Wochenende wieder nach Ulm kommen, hatte sie versprochen; sie wolle unbedingt Elisabeths Kopf aus Lehm zu Ende modellieren. Jetzt drängt sich Robert Scholl an den Zuschauern vorbei nach vorne, redet erst auf die Verteidigung ein, dann
Weitere Kostenlose Bücher