Sophie Scholl
Olgastraße in Ulm, unter dem frischen Eindruck eines Fehlschlags, notiert Inge Scholl nach der Rückkehr aus Einsingen, was vorgefallen ist.
Auf dem Weg vom Bahnhof ins Dorf wäre das Trüppchen »beinahe in einen Bach hineinmarschiert«, denn es herrschte »rechts Nebel, links Nebel, vor uns Nebel«. Endlich erreichen sie das abseits liegende Heim: »Auf halb sieben hatten wir die Mütter bestellt. ½ 7 Uhr! Einige Jungmädel und die Einsinger JM-Führerin Elisabeth erschienen. Keine Einzige Mutter … dreimal hatten wir sie eingeladen.« Inge Scholl entscheidet: »Hopp – die ganze Bande zum Jungvolkführer.« Der öffnet ihnen das mitten im Dorf liegende HJ-Heim. Dorthin kommen ein paar Mütter. Einige der Ulmer Mädchen spielen Volkslieder auf Klampfe und Ziehharmonika, die andern verkleiden sich – »Rumpelstilzchen wollen wir aufführen«. Nach dem Märchen spricht die Gruppe im Chor: »Wir wollen nichts sein für uns, sondern alles nur für unser Volk … für Deutschland. Die wir sind vergänglich, Deutschland aber muss leben.« Auch Sophie Scholl spricht es mit.
Dreiviertel neun Uhr geht es in Eile mit dem Auto auf glitschiger Straße zurück zum Bahnhof, »12 Mädel und ein Fahrrad – in einem gewöhnlichen 4 Sitzer«. Inge Scholls Bericht über die Rückfahrt: »Lore neben mir sagt: Du, so stelle ich mir das vor, wenn sie in der Kampfzeit Propaganda machten auf dem Land. Ja, nicke ich.«
In der Kampfzeit: Das waren die harten Jahre vor dem 30. Januar 1933, als Adolf Hitler Reichskanzler wurde und seitdem Deutschland verändert und sich gefügig gemacht hatte wie kein Politiker zuvor. Durch den Vergleich klingt es wie ein Glücksgefühl, ähnlichen Strapazen ausgesetzt zu sein wie einst die Pioniere. Aus dem Vorbild der alten Kämpfer der »Bewegung« erwachsen Stolz und Verpflichtung, Stärkung und Gewissheit: »Aber den Müttern hat’s gefallen, das haben wir an ihren Augen gesehen – und wenn’s auch nur wenige waren – sie tragen es hinein ins Dorf, lernen uns vielleicht ein wenig verstehen. Unser Eroberungsfeldzug geht weiter: Wir erobern uns unser deutsches Volk.« Und Sophie Scholl ist dabei.
Die ältere Schwester nimmt die jüngere offensichtlich bewusst mit an die Front, wenn es darum geht, Führungsqualitäten zu zeigen, zu lernen. Kein besseres Praktikum bei der »Ausbildung« zur höheren BDM-Führerin für die vierzehnjährige Sophie Scholl als der Abend in Einsingen. Kein perfekteres Vorbild als die achtzehnjährige Inge, bei der alles – obwohl ein Ehrenamt – professionell abläuft: organisieren und planen, wenn nötig, flexibel neue Entscheidungen treffen, mit Autorität auftreten und durchgreifen. Und mit Überzeugung die Botschaft rüberbringen, dass sich alle der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft anschließen, weil »Deutschland leben muss«.
Sophie Scholl hat nach ihrem Eintritt als Jungmädel im April 1934 geschworen, »gerade« zu sein. Nichts spricht dagegen, dass sie aus Überzeugung mit nach Einsingen gefahren ist und sich mit dem »Eroberungsfeldzug« im Namen der nationalsozialistischen Jugendorganisation identifiziert. Dass Inge Scholl ihre jüngste Schwester zum Mitmachen gezwungen hätte, ist ausgeschlossen. Vielmehr weiß Sophie Scholl dank ihrer ältesten Schwester, was man von einer höheren BDM-Führerin erwartet.
Das Jahr 1936 begann für Sophie Scholl im Winterlager der Ulmer BDM-Führerinnen, das Inge Scholl vom 27. Dezember 1935 bis 5. Januar 1936 bei Freudenstadt organisiert hatte. Zuvor hatte es noch einen »Sammelappell zum Winterhilfswerk« gegeben; viele Stunden würden die BDM-Mädchen und HJ-Jungen in den folgenden Monaten wieder mit der Sammelbüchse auf Straßen und Plätzen stehen. Aber das ist kein Grund, nicht weitere freie Zeit in die Arbeit bei den Jungmädeln und dem BDM zu stecken. 18. Januar 1936: »Wir gehen in den Film ›Unsere Wehrmacht‹. Am 27. Januar fährt Inge Scholl zur »Führertagung« nach Stuttgart. Der achtundzwanzigjährige Baldur von Schirach, als Jugendführer des Deutschen Reiches und hoher NSDAP-Funktionär Herr über alle NS-Jugendorganisationen, »spricht über kommende Aufgaben in 1936«, so Inge Scholls Notizen.
Am 28. Januar beschreibt Inge Scholl, wie sie die neu ernannten Führerinnen eingeschworen hat: »Wir stehen im Halbkreis, den Blick der untergehenden Sonne zugewandt: ›Wer sich nicht ganz und gar für seine Gruppe einsetzt, wer jetzt noch immer nicht bereit ist, Jungmädel zu sein, nicht nur
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