Sophie Scholl
ausfüllt und auch 1937 an mehreren Tagen und Abenden der Woche nicht nur ihre Anwesenheit, sondern Vorbereitung, Ideen und Einsatz fordert. Wird hier endlich der Bruch Sophie Scholls mit der nationalsozialistischen Jugendorganisation sichtbar? Klar und eindeutig, wie die Nachgeborenen es sich erhoffen? Auf den zweiten Blick stellt sich Ernüchterung ein: Die hoffnungsvolle Frage muss verneint werden. Sophie Scholl deutet mit keinem Wort an, warum sie sich – aus eigenem Antrieb – von der HJ gelöst hat.
Die Tagebuch-Zeilen bleiben ein Rätsel. Aber im Ausschlussverfahren wird zweifelsfrei deutlich, was sie nicht bedeuten. Sophie Scholl hat weder im August 1937 noch in den folgenden Wochen oder Monaten ihr Führungsamt bei den Jungmädeln abgegeben oder gar ihre Arbeit eingestellt. Sie wird erst 1938 – wahrscheinlich im November – ihr Amt als Gruppenführerin niederlegen, aber nicht freiwillig. Und selbst »bei diesem Zerwürfnis«, so führt sie ausdrücklich in ihrem Verhör im Februar 1943 an, »handelte es sich um eine rein innerdienstliche Angelegenheit des BDM ohne jeden politischen Hintergrund«. Da der BDM – und innerhalb des BDM die Jungmädel – keine unabhängige nationalsozialistische Organisation war, sondern eine Untergruppe der Hitlerjugend, hat es möglicherweise Konflikte zwischen dem BDM in Ulm und HJ-Kadern gegeben oder direkt zwischen Sophie Scholl und Ulmer HJ-Funktionären oder auch Streit innerhalb des BDM. Jedoch waren diese Konflikte nach ihrer Aussage nicht politischer Natur. Sie sind, ähnlich wie bei dem Konflikt von Hans Scholl im Jungvolk, kein Anzeichen für eine Distanzierung Sophie Scholls vom Nationalsozialismus. Auch bei »Hilde« – Hilde Kappus war eine Freundin von Inge Scholl und ihre langjährige Mitarbeiterin bei den Jungmädeln – kann es sich nur um persönliche Dissonanzen handeln. Der Tagebuch-Eintrag ist wohl eher mit pubertären Stimmungsschwankungen zu erklären und verliert insofern an Brisanz.
Auf Fahrt: Zweite von rechts Sophie Scholl
Das Stichwort »BDM« erinnert daran, dass das ganze Jahr 1937 – wie alle Jahre, seit Sophie Scholl im Januar 1934 bei den Jungmädeln eintrat – vom nationalsozialistischen Jahreszyklus der Feiern und Rituale geprägt war. Die nationalsozialistischen Jugendorganisationen, ihre Führer und Führerinnen in Uniform vorweg, waren fester Teil der Inszenierungen: ob Aufmarsch auf dem Ulmer Münsterplatz zum »Heldengedenktag« mit großem Zapfenstreich im März, Paraden zu »Führers Geburtstag« am 20. April, Umzüge zum »Tag der nationalen Arbeit« am 1. Mai oder Spalierstehen bei den Besuchen hochrangiger Politiker oder Parteiführer; ob vorgeblich germanische Brauchtumsfeiern wie Sommersonnenwende oder das immer pompöser angelegte Erntedankfest. Nichts davon erwähnt Sophie Scholl 1937 in ihrem Tagebuch. Es war eine Selbstverständlichkeit für eine Gruppenführerin – und inzwischen Routine für sie. Es war Alltag, unangezweifelt – doch ihre inneren Umbrüche und Veränderungen, ihre Sehnsüchte und Fragen an die Zukunft blieben davon unberührt.
Im August, während der Fahrt durch den Böhmerwald, war Sophie Scholl endlich wieder einmal längere Zeit mit Lisa Remppis zusammen. »Du, unsere Fahrt kommt mir wie ein Traum vor, es ist aber ein schöner«, schreibt ihr die Freundin am 5. Dezember 1937. Diesmal kommt der Brief nicht wie üblich aus Langenburg an der Jagst. Familie Remppis ist im Oktober nach Leonberg bei Stuttgart umgezogen. Lisa ist der Abschied schwer gefallen, »sogar von der Schule«. Doch das neue Haus mit Garten sei gemütlich und Stuttgart mit Theater und Film ganz nah: »Komm doch einmal! Es würde mich sooo furchtbar, schrecklich freuen!« Das Heimweh nach der besten Freundin ist groß, trotzdem nimmt Lisa Remppis ihr das lange Schweigen nicht übel. Aber sicher sein möchte sie doch: »Hast du eigentlich meinem Brief von ewig lang her, nicht erhalten? Du hast sicher auch wenig Zeit zum Schreiben, deshalb hast du wahrscheinlich noch nichts von Dir hören lassen? … Was machst du eigentlich?«
Eine gute Frage. Für Sophie Scholl wird Lisa Remppis in den nächsten Jahren der einzige Mensch sein, mit dem sie über das redet, was in diesen Wochen seinen Anfang genommen hat. Aber noch ist es ihr Geheimnis und bewegt und beansprucht all ihre Gefühle und Gedanken und eine Menge ihrer Zeit. Und hinterlässt Spuren in ihrem Tagebuch. Am 2. November 1937 taucht dort ein neuer Name auf: »Vor allem
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