Soul Screamers 1 - Mit ganzer Seele
die Arbeitsplatte sauber gewischt. Erst als es wirklich nichts mehr zu tun gab, setzte sie sich neben Sophie und flößte ihr eine Tasse Tee ein. Danach war das Schluchzen endlich weniger geworden. Aber Sophie hörte trotzdem nicht auf zu reden.
Merediths Tod war der erste Vorfall dieser Art in dem sonst so märchenhaften Leben meiner Cousine, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Als sie zwanzig Minuten später immer noch schluchzte und weinte, verschwand Tante Val kurzerhand im Badezimmer und kam mit einer kleinen braunen Pillendose zurück, die ich sofort wiedererkannte. Es waren die Pillen, die von meinem letzten Besuch bei Dr. Nelson von der Psychiatrischen Station übrig geblieben waren.
Ich bedachte meine Tante mit einem skeptischen Blick. Aber sie lächelte nur bedauernd und zuckte die Schultern. „Es wird sie beruhigen. Sie braucht jetzt Ruhe und viel Schlaf.“
Das stimmte. Allerdings brauchte Sophie einen natürlichen Schlaf und kein von chemischen Substanzen hervorgerufenes Koma. Ich wusste, dass meine Meinung hier nicht interessierte.
Einen Moment lang beneidete ich meine Cousine um ihre Unerfahrenheit, obwohl ich gerade live miterlebte, wie sie sie verlor. Ich hatte schon früh im Leben mit dem Tod Bekanntschaft gemacht. Und so untröstlich Sophie momentan auch war, zumindest hatte sie fünfzehn Jahre lang in ihrer bunten, behüteten und sorgenfreien Plastikwelt tanzen können, in der weder Dunkelheit noch Schmerz existiert hatten. Egal was als Nächstes passierte, niemand konnte ihr diese glückliche Kindheit nehmen.
Unter Tante Vals Aufsicht schluckte Sophie eine der kleinen weißen Pillen und ließ sich dann widerstandslos in ihr Zimmer führen. Ich hörte die Matratze knarzen, und zehn Minuten später Sophies Schnarchen. Was das anging, war Sophie eindeutig die Tochter ihres Vaters.
Während ich auf Val wartete, holte ich mir eine zweite Dose Cola aus Onkel Brendons Fach im Kühlschrank – der einzige Bereich, in den Tante Vals zucker- und fettfreies, geschmacks-neutrales Regime noch nicht Einzug gehalten hatte – und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Ich schaltete den Fernseher ein und entschied mich für das regionale Programm. Aber mitten am Nachmittag gab es keine Nachrichten, erst wieder um fünf Uhr.
Nachdem ich den Fernseher ausgeschaltet hatte, hing ich meinen Gedanken nach. Bisher hatte ich die Coles erst einmal gesehen, bei einem von Sophies Tanzwettbewerben letztes Jahr. Bei dem Gedanken daran, dass Merediths Mutter ihrem jüngeren Sohn beibringen musste, dass seine Schwester nicht von der Schule nach Hause kommen würde, stiegen mir die Tränen in die Augen. Meredith würde nie mehr nach Hause kommen.
Leises Gläserklappern aus der Küche riss mich für einen Moment aus der Grübelei. Ich drehte mich um und beobachtete, wie meine Tante heißen Tee in einen großen Becher schenkte, und fragte mich stirnrunzelnd, ob Val wohl auch eine Pille schlucken wollte. Doch sie stellte sich auf die Zehenspitzen und öffnete das oberste Schrankfach, in dem der Alkohol deponiert war.
Sie nahm eine Flasche Brandy heraus, schraubte den Deckel auf und gab einen ordentlichen Schluck davon in den Becher.Die Flasche ließ sie auf der Theke stehen, ganz so als wolle sie sich noch nachschenken.
Dann trank sie einen großen Schluck „Tee“ und drehte sich um. Als sich unsere Blicke trafen, blieb sie wie angewurzelt stehen, hochrot im Gesicht.
„Es war noch nicht in den Nachrichten“, sagte ich und konnte nicht übersehen, wie müde Tante Val wirkte und wie schwer ihre Schritte waren. Tante Val war jahrelang mit Mrs Cole ins Fitnessstudio gegangen, möglicherweise traf Merediths Tod sie doch härter, als ich gedacht hatte. Vielleicht war sie aber auch nur wegen Sophie so niedergeschlagen. Oder sie hatte die Verbindung zwischen Merediths und Heidis Tod erkannt – soweit ich informiert war, wusste sie noch nichts von Alyson Baker – und vermutete jetzt, dass etwas nicht stimmte. Genauso wie ich.
Was auch immer der Grund war: Tante Val sah blass aus, und ihr zitterten die Hände. Sie wirkte so geschwächt, dass ich es fast nicht über mich brachte, ihr noch mehr Sorgen zu bereiten. Aber es half alles nichts, allein war ich mit den Vorahnungen überfordert, ich brauchte dringend Hilfe und einen Rat … oder zumindest irgendetwas.
Was mir am dringendsten fehlte, war eine Erklärung, wozu diese Todesahnungen gut sein sollten – wenn nicht dafür, die Menschen zu warnen. Welchen Sinn
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