Späte Schuld
wissen genauso wenig, ob Sie auf Ungültigkeit des Verfahrens drängen sollen oder nicht. Ich habe bereits eindeutig zu verstehen gegeben, dass ich keine rechtskräftige Klageabweisung anordnen werde, sondern lediglich eine Wiederaufnahme des Prozesses. Sie haben Angst, dass sich Bethel Newton doch wieder zur Aussage überreden lässt und dieses Mal besser vorbereitet ist. Und Sie befürchten, dass ein neuer Prozess Sie um den Vorteil bringt, die DNA-Beweise der Anklagevertretung diskreditiert zu haben. Von einem Wiederaufnahmeverfahren könnten jedoch auch Sie profitieren, weil Sie die Tatsache anführen können, dass das genetische Profil genauso auf Louis Manning passt.«
»Das kann ich auch ohne Wiederaufnahmeverfahren, Euer Ehren«, gab Alex zu bedenken.
»Dann muss ich Sie leider darauf hinweisen, dass sie dadurch auch der Anklage ermöglichen würden, sämtliche Ergebnisse der neuen Tests vorzulegen, inklusive der Tatsache, dass das DNA-Profil der Nagelprobe erneut mit dem Profil des Angeklagten übereinstimmt.«
»Das ist nicht fair, Euer Eh…«, platzte Andi heraus. Alex brachte sie mit einer kaum merklichen Bewegung seines Zeigefingers zum Schweigen.
Die Richterin ließ sich nicht beirren. »Und ob das fair ist, Mrs Phoenix. Wenn die Verteidigung Louis Manning einführen will, muss sie dazu die Ergebnisse der neuen Tests vorlegen. Und sobald diese vorliegen, kann die Anklage alles verwenden, was in diesen Tests sonst noch zu finden ist. Die Ergebnisse lassen sich nicht isoliert betrachten. Die Frage, die sich beide Parteien stellen sollten, lautet also, ob sie den Prozess nicht doch lieber fortsetzen möchten. Wie bereits dargelegt, werde ich die Klage nicht rechtskräftig abweisen. Sie müssen sich also zwischen Neuaufnahme und Fortsetzung des Prozesses entscheiden. Sollten Sie der Fortsetzung zustimmen, überlasse ich es der Verteidigung, ob sie die neuen Testergebnisse vorlegen will oder nicht.«
»Das verstehe ich nicht, Euer Ehren«, protestierte Sarah. »Warum sollte der Verteidigung das Privileg zukommen, darüber zu entscheiden?«
»Weil es von Rechts wegen nicht anders geht. Die Anklagevertretung hat ihre Beweisführung bereits abgeschlossen und kann keine neuen Beweise einführen. In diesem Gericht entscheidet immer noch das Gesetz und nicht Ihre persönlich Laune, Mrs Jensen.«
Jetzt war es an Alex, verwirrt zu sein. »Wenn das so ist, warum entscheiden Sie dann nicht selbst, ob Sie den Prozess fortsetzen oder ein Wiederaufnahmeverfahren anordnen, Euer Ehren?«
»Weil dieses Thema äußerst komplex ist, Mr Sedaka. Ich habe zwar letztlich die Entscheidungsgewalt, erkenne aber durchaus, dass sich beide Parteien in einem Dilemma befinden. Wie auch immer ich entscheide, eine Partei enttäusche ich auf jeden Fall, vielleicht sogar beide. Also überlasse ich das Ihnen – Ihnen und der Anklagevertretung. Ich werde diese Verhandlung nun für eine Stunde unterbrechen, damit Sie in Ruhe nachdenken und zu einer Einigung gelangen können. Und anschließend werden wir das umsetzen, worauf Sie sich geeinigt haben.«
Damit kam Richterin Wagner äußerst clever späteren Beschwerden zuvor – vor allem Beschwerden aus dem Lager der Verteidigung. Sowohl die Wiederaufnahme als auch die Fortsetzung des Prozesses hatten Vor- und Nachteile, und wenn die Richterin die Entscheidung allein traf, konnten beide Parteien ihre Einwände zu Protokoll geben und später mit der Begründung in Berufung gehen, sie hätten die Entscheidung der Richterin von vornherein abgelehnt. Im Prinzip trat Richterin Wagner ihre Entscheidungsgewalt einfach an die Parteien ab – wenn auch unter dem Deckmantel, eine Einigung zwischen ihnen erzielen zu wollen.
Natürlich hieß das noch lange nicht, dass es auch wirklich zu einer Einigung kommen würde. Alex war nun jedenfalls gezwungen, sich auf eine Position festzulegen, was bedeutete, dass er schnell eine Lösung für sein Dilemma finden musste.
»Und was, wenn wir uns nicht einigen können?«, fragte er die Richterin.
»Dann obliegt die Entscheidung wieder mir. Allerdings werde ich vorher beide Parteien bitte, ihre Positionen zu Protokoll zu geben – und auch ihren jeweiligen Plan B.«
Das bestätigte Alex’ Verdacht. Seine Position bestand natürlich darin, dass eine rechtskräftige Klageabweisung das Gebot der Stunde war. Aber jetzt musste er auch einen Plan B angeben, und wenn sich die Richterin für diesen Plan B entschied, konnte er hinterher nicht dagegen in Berufung
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