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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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gelogen hatten?«
    »Ich hatte nicht gelogen.«
    »Warum haben Sie dann gesagt, dass Sie gelogen haben?«
    »Damit mich meine Familie und meine Freunde in Ruhe lassen. Nachdem ich die Strafanzeige widerrufen hatte, haben sie alle auf mich eingeredet und mich dazu gedrängt, die Anklage zu erneuern.«
    »Ah, Sie haben also erst zugegeben, dass Sie gelogen hatten, nachdem die Strafanzeige widerrufen war?«
    »Ja. Aber es war keine Lüge! Er hat mich wirklich vergewaltigt!«
    »Warum haben Sie die Anzeige dann überhaupt zurückgezogen, wenn Sie doch die Wahrheit gesagt hatten?«
    Bethel öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus.
    »Lassen Sie sich Zeit, Miss Newton«, sagte die Richterin sanft.
    »Das ist kompliziert.«
    »Hätten Sie gern noch ein Glas Wasser?«, fragte Ellen Wagner. Ohne auf eine Antwort zu warten, signalisierte sie einem Gerichtsdiener, das Glas wieder aufzufüllen, das Bethel im Laufe des Verhörs nach und nach leer getrunken hatte. Nach ein paar Schlucken hatte sich Bethel beruhigt, und die Richterin forderte sie mit einem Nicken auf, ihre Antwort fortzusetzen.
    »Ich wusste, dass ich so etwas wie das hier durchstehen muss, wenn ich die Anklage durchziehe … und …«
    »Was meinen Sie mit ›das hier‹?«
    »Na … das …« Wieder begannen die Tränen zu fließen.
    »Sie meinen das Kreuzverhör?«
    »Ja«, sagte Bethel mit Kleinmädchenstimme und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten.
    »Aber Sie wissen, dass das mein Job ist?«
    »Ja, schon.«
    »Sie hatten also Angst davor, dass der Verteidiger seinen Job macht?«
    »Ich hatte Angst davor, wie ich nach dem Kreuzverhör dagestanden hätte.«
    »Und wie hätten Sie dagestanden, Miss Newton?«
    »Wie ein Flittchen.«
    »Und warum?«
    »Weil die einen immer so dastehen lassen.«
    »Die?« Andi hob die Augenbrauen.
    »Anwälte. Verteidiger.«
    »Wirklich nur Anwälte, Miss Newton?«
    Am Tisch der Anklagevertretung versteifte sich Sarah Jensen, weil sie wusste, dass Andi die Zeugin auf gefährliches Terrain führte. Natürlich hätte sie Einspruch erheben können, aber sie wollte vor den Geschworenen auf keinen Fall den Eindruck erwecken, Bethel vor der Befragung beschützen zu müssen. Also hielt sie sich zurück. Mit ein bisschen Glück provozierte Andi mit ihren Attacken sogar Mitgefühl für das Opfer.
    »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.«
    »Oh, ich glaube schon, dass Sie das wissen. Haben Ihre männlichen Mitschüler an der Highschool Sie nicht in der Schülerzeitung zum ›Flittchen des Jahres‹ gewählt?«
    »Doch«, heulte sie und schluchzte in ihr Taschentuch. »Aber ich war gar nicht so. Ich war kein Flittchen. Das war nur ein dummer Jungenstreich.«
    »Aber die Verteidiger hätten wahrscheinlich gedacht, dass es stimmt, Miss Newton.«
    Sarah Jensen sprang nun doch wie ein Racheengel von ihrem Stuhl auf. Sie hatte erkannt, dass sie schon längst hätte eingreifen müssen. »Euer Ehren, das ist wohl kaum von Bedeutung für dieses Verfahren. Die Zeugin hat der Darstellung in der Schülerzeitung damals schon widersprochen.«
    »Das kann ja sein«, entgegnete Andi. »Aber das frühere Verhalten der Zeugin beeinflusst nun einmal ihre jetzige Glaubwürdigkeit.«
    Sarah Jensen versuchte es erneut: »Das mag auf Miss Newtons damaligen Umgang mit der Strafanzeige zutreffen, Euer Ehren. Aber wie Unbeteiligte die Zeugin damals dargestellt haben, spielt keine Rolle. Die Umfrage wurde von einer Gruppe Highschool-Schülern durchgeführt und spiegelt lediglich die Denkweise dieser Jungen wider. Eine verlässliche Aussage über das damalige Verhalten der Zeugin stellt sie hingegen nicht dar.«
    Richterin Wagner zögerte, bevor sie langsam erklärte: »Es ist vielleicht nicht die verlässlichste Aussage, aber es ist eine Aussage, Mrs Jensen.«
    »Aber keine, die während eines Kreuzverhörs zur Sprache kommen sollte. Wenn die Verteidigung sie als Beweis vorlegen will, muss sie den Verfasser des Artikels als Zeugen aufrufen und sich dabei genau an die Regeln halten, die für Beweise, die auf Hörensagen beruhen, vorgeschrieben sind.«
    »Was den Inhalt seiner Zeugenaussage so sehr einschränken würde, dass sie völlig wertlos wäre«, gab die Richterin zu bedenken.
    »Dann soll die Verteidigung eben die Jugendlichen vorladen, die auf die Meinungsumfrage geantwortet haben.«
    »Das wäre kaum praktikabel, Mrs Jensen.«
    »Ich wiederhole dennoch meinen Einspruch. Wenn die Tatsache, dass Miss Newton von ihren Mitschülern als Flittchen

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