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Späte Sühne - Island-Krimi

Späte Sühne - Island-Krimi

Titel: Späte Sühne - Island-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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bei mir auf. Sie holten mich im wahrsten Sinne des Wortes aus der Gosse und richteten mich auf. Zwar besorgten sie mir zuerst noch die nächste Spritze und eine Unterkunft und ein Bad, und dann begann der Entzug. Nach Sunnas Tod in den Flammen war Rakel nicht imstande gewesen, ihren Roman zu vollenden, und ihre Trauerbewältigung hatte darin bestanden, sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Im Anschluss daran hatte sie in einem Therapiezentrum für Alkoholiker und Rauschgiftsüchtige gearbeitet, deswegen kannte sie die harte Methode. Nach drei Wochen war ich imstande zu reisen, und wir flogen zusammen zurück nach Island. Das folgende Jahr verbrachte ich bei ihnen im Jónshús. Seitdem habe ich weder Alkohol noch Drogen angerührt und mich nur meinem Kunstschaffen gewidmet. Ich gehe fast jeden Tag zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker und danke meinem Gott für jede Stunde, in der ich schaffen kann. Darin besteht heute für mich der Rausch. Ich kann von Glück reden, dass ich noch am Leben bin. Heroin kann jederzeit tödlich sein.«
    Janis Joplin hatte während dieses Berichts leise im Hintergrund gesungen, jetzt stellte Helgi die Musik wieder lauter und lauschte schweigend.
    »And that’ll be the end of the road, babe, I know you got more tears to share, babe.«
    Noch einmal regelte er den Ton herunter und fragte: »Weißt du, wie Janis Joplin gestorben ist?«
    »Nein«, sagte Birkir und schüttelte den Kopf.
    »Ihr Heroindealer war selber völlig clean«, sagte Helgi. »Der musste bei einer neuen Lieferung die Stärke immer erst von einem erfahrenen Fixer testen lassen. Man wusste nie genau, wie stark der Stoff war, der von den Zwischenhändlern kam. Der Dealer bekam also eine neue Sendung, und obwohl diesmal sein Versuchskaninchen nicht zur Verfügung stand, brachte er das Zeug in Umlauf, auch Janis bekam ihre Fünfzig-Dollar-Ration. Sie war allein auf ihrem Hotelzimmer, als sie sich die Spritze setzte. Anschließend ging sie nach unten in die Lobby und ließ sich eine Fünfdollarnote kleinmachen, um sich Zigaretten für fünfzig Cent aus dem Automaten ziehen zu können. Sie war gerade wieder auf ihrem Zimmer angekommen, als dieser Schuss zum goldenen wurde. Das Zeug war achtmal stärker, als sie gewohnt war. Achtzehn Stunden später wurde sie mit vier Dollar und fünfzig Cent in der Hand aufgefunden. Acht Heroinabhängige, die aus dieser Sendung beliefert worden waren, starben am gleichen Wochenende.«
    Helgi schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Jedes Mal, wenn ich gefixt habe, hätte mir das Gleiche passieren können.«
    »Erzähl mir vom Sonnendichter«, bat Birkir. »Wie ist sein Leben weitergegangen?«
    Helgi lächelte schwach und sagte: »Mein Freund Jón hat keine einzige Zeile mehr geschrieben, nachdem die Sonne aus seinem Leben verschwunden war. Man hatte angefangen, ihn den Sonnendichter zu nennen, denn Sunnas Vertonungen seiner Gedichte waren inzwischen bekannt und beliebt. Seine Gedichte werden immer mal wieder herausgegeben, aber es kommen keine neuen hinzu. Er rezitiert sie zu jeder Gelegenheit. Sein Geist ist mit Sunna gestorben. Nach dem Brand in Sandgil gestatteten seine Eltern ihm, zu ihnen in den Keller zu ziehen, und sie haben sich seiner angenommen, solange sie lebten. Er war arbeitsunfähig und wäre vermutlich in irgendeiner Anstalt gelandet, wenn sie sich nicht um ihn gekümmert hätten. Später hat er dann das Haus und die anderen Besitztümer geerbt. Er lebt hauptsächlich davon, Zimmer zu vermieten, aber mit dem Kassieren der Mieten nimmt er es nicht so genau. Irgendwie könnte man sagen, dass er sich so etwas wie eine neue Kommune geschaffen hat, so wie es ihm in Sandgil vorschwebte. Rakel kümmert sich um die praktischen Dinge. Die Mieter werden nicht danach ausgesucht, ob sie zahlungskräftig sind, sondern ob sie etwas zur kulturellen Atmosphäre im Haus beitragen können. Im Jónshús herrscht nie Langeweile. Es ist so etwas wie eine Akademie des freien Denkens und des ungezügelten Schaffens in den unglaublichsten Bereichen. Da lebt noch so ein kleiner Rest der Hippiekultur in geschützter Umgebung weiter. Jón verfolgt alles mit, aber er dichtet schon seit Langem nicht mehr. Er genießt es jetzt, andere Künstler zu unterstützen.
    Jón trinkt mehr, als gut für ihn ist, aber nicht so, dass man um sein Leben fürchten müsste, und er nimmt auch nichts anderes. Manchmal vergisst er den Alkohol sogar wochenlang und vertieft sich in irgendwelche Literaturstudien.

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