Spaghetti in flagranti
unsensibel und stur hatte ich Otto ja noch nie erlebt. Musste ich mir Sorgen machen? Hatte er es sich etwa anders überlegt und wollte gar nicht zurück nach Italien kommen? Hatte er sich deshalb nicht gemeldet?
Ich ließ mich einfach umfallen und lag eine Weile regungslos quer auf meinem Bett. Nach fünf Minuten war ich derart deprimiert, dass ich in meinen vier Wänden schier verrückt wurde. Spontan rief ich Vale an und fragte, ob wir uns noch auf einen Drink in unserer Lieblingsbar treffen könnten. Sie war mit ein paar Leuten unterwegs, da sie sich von ihrem Liebeskummer ablenken musste, und meinte, ich solle einfach dazukommen.
Genau zwei Stunden und zwei Mojitos später ließ die depressive Verstimmung allmählich nach, und ich konnte schon wieder lachen. Daran war unter anderem Gianmarco schuld, mein Exfreund, den ich seit mindestens eineinhalb Jahren nicht gesehen hatte. Ich hatte nicht schlecht gestaunt, als er etwa eine halbe Stunde nachdem ich in der Bar Lungomare eingetroffen war, plötzlich vor uns stand. Vale und ich waren mit ihm und den anderen aus der Clique zur Schule gegangen und früher jedes Wochenende gemeinsam um die Häuser gezogen, aber irgendwie hatten wir uns aus den Augen verloren. Mit ihrer Trennung von Giorgio hatte sich Vales Freundeskreis extrem verkleinert, und sie hatte die alten Kontakte wieder aufgefrischt.
Gianmarco war meine große Jugendliebe gewesen, wir hatten uns schon auf dem Schulhof ineinander verguckt. Eine feste Beziehung hatten wir nie gehabt, dafür aber viel Spaß miteinander – wann immer ich den Argusaugen meines Vaters hatte entwischen können. Nach dem Militärdienst, den er nur wenige Kilometer weiter in Pesaro absolviert hatte, war Gianmarco zum Studium nach Rom gezogen, während ich in Urbino einen Studienplatz bekommen hatte, und bald war jeder in seiner neuen Welt gefangen gewesen. Wir waren nicht im Bösen auseinandergegangen und uns in großen Abständen immer mal wieder begegnet, etwa wenn er an Weihnachten oder zu anderen Familienfesten in Riccione war.
Zufällig war ausgerechnet neben mir der einzige Platz am Tisch frei, und ich freute mich so über das Wiedersehen mit ihm, dass mir Vales zufriedener Blick gar nicht auffiel.
Gianmarco und ich kamen sofort ins Gespräch. Er war von der ersten Sekunde an charmant und zuvorkommend wie immer – genau das, was ich in meinem Zustand brauchte. Er winkte den Kellner herbei, sobald mein Glas leer war, gab mir den Keks von seinem caffè ab und holte mir am Tresen eine Tüte Chips, nur weil ich nebenbei erwähnt hatte, dass ich von Mojitos jedes Mal Hunger auf etwas Salziges bekäme. Kurzum: Er sorgte dafür, dass ich meinen Kummer und meinen Ärger für ein paar Stunden vergaß, und dafür war ich ihm unendlich dankbar.
Als er kurz zur Toilette ging, nahm ich auch die anderen um mich herum wieder wahr, und mein Blick fiel auf Vale. Ich beobachtete sie eine Weile, ohne dass sie es bemerkte. Sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung der anderen, sondern saß wie ferngesteuert da, stierte auf ihr telefonino und tippte wie wild Nachrichten. Gab es da etwa jemanden, von dem ich nichts wusste?
»Wem simst du eigentlich die ganze Zeit?«, fragte ich neugierig und beugte mich zu ihr hinüber, um einen Blick auf ihr Display werfen zu können.
Sofort drehte sie sich von mir weg. »Ach, kennst du nicht.«
Nun wollte ich es erst recht wissen. »Sag schon! Hast du einen neuen Verehrer?«
»Wer weiß?«
Da kam Gianmarco zurück, und sie nutzte die Gelegenheit, um ihr Telefon in der Handtasche verschwinden zu lassen.
»Erzähl mal, wie ist es denn so in bella Roma?«, verwickelte sie ihn sofort in ein Gespräch und nahm mir damit jede Chance auf eine konkretere Antwort.
Ich sagte nichts weiter dazu, nahm mir aber vor, ihr später noch mal ausführlich auf den Zahn zu fühlen.
Der Abend wurde noch sehr lustig, und wir blieben sitzen, bis der Wirt uns um eins vor die Tür kehrte. Gianmarco war so nett und bot mir an, mich zu Hause abzusetzen, was ich natürlich gerne annahm. Wir tauschten Handynummern und verabredeten, uns bald mal in Ruhe zu treffen, schließlich hatten wir uns noch so einiges zu erzählen.
Otto kann mir echt gestohlen bleiben, dachte ich, als ich endlich abgeschminkt und mit dem kläglichen Rest meiner Wundercreme im Gesicht im Bett lag. Ich war enttäuscht, dass er mir nicht mal eine Gute-Nacht- SMS geschickt hatte, denn ich fand, er hätte sich ruhig bei mir entschuldigen können.
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