SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
politischen Neugestaltungen bzw. das, was wir »Globalisierung« nennen, wurde noch einmal ein gewaltiger Beschleunigungsruck erzeugt. Und natürlich hat auch die Digitalisierung, die Einführung des Internets, unsere Welt enorm beschleunigt.
Momentan befinden wir uns in einer kritischen Umbruchphase. Die Menschen können heute immer weniger die VerheiÃungsseite der Beschleunigung sehen bzw. was ihnen die Beschleunigung bringen soll. Sie haben das Gefühl, dass es jedes Jahr ein bisschen schneller geht und dass auch sie jedes Jahr schneller werden müssen. Aber im Gegensatz zu früher ist damit keine Bewegungs- oder Entwicklungshoffnung mehr verbunden. Der Lebensstandard steigt nicht mehr spürbar durch den immer höher werdenden Druck. Was wir jetzt beobachten können, ist der Verlust der Fortschrittshoffnung. Dass Menschen nicht mehr glauben, die Dinge werden besser dadurch, dass wir wachsen oder beschleunigen, sondern dass sie das Gefühl haben, der Druck wachse ihnen über den Kopf. Das erzeugt eine Art Kollektivdepression. Wir haben Strukturen geschaffen, die sich beschleunigen müssen; nicht, damit die Dinge besser werden, sondern damit sie überhaupt bestehen können. Und das ist der Punkt, wo Beschleunigung aus meiner Sicht schlimm wird, wo wir nämlich immer schneller rennen müssen, nicht, um irgendwo hinzukommen, sondern nur um irgendwie auf dem Laufenden, im Spiel zu bleiben.
Es ist doch kein Zufall, dass genau in dem Zeitalter, in dem permanent der Wettbewerb beschworen wird, in dem sich fast alle Parteien einig sind, dass wir mehr Wettbewerb unter Schulen, mehr Wettbewerb unter Universitäten, mehr Wettbewerb unter Strom- und Gasanbietern und Versicherern und so weiter brauchen, dass genau in dem Zeitalter auch die Menschen über Zeitnot im wachsenden MaÃe klagen. Wer »Mehr Wettbewerb« sagt, meint weniger Zeit. Meint Verschärfung der Beschleunigungslogik.
Wie lange ist eigentlich eine Mikrosekunde? â Reuters und der Finanzmarkt
»Zeit ist Geld«: Die subtile Bedeutung und Sprengkraft dieser tausende Male gehörten und scheinbar abgegriffenen Gleichung war mir vor meiner Suche nach den Ursachen meiner und unserer Raserei überhaupt nicht klar. Wirtschaft und Wettbewerb tragen also einen erheblichen Teil dazu bei, dass die Welt immer schneller und uns allen die Zeit immer knapper wird. So viel steht fest. Doch ohne uns, die dieses Spiel mitmachen, ginge das natürlich nicht. Nicht nur im Rennsport hat Geschwindigkeit eben auch durchaus ihren Reiz. Nach meinem Treffen mit der Unternehmensberaterin Antonella Mei-Pochtler interessiert mich jetzt die Frage brennend, bei welchem Tempo wir inzwischen eigentlich angekommen sind und wie weit sich das Rad überhaupt noch drehen lässt? Irgendwo muss es doch auch Grenzen der Beschleunigung geben, nur wo?
Um das herauszufinden, bin ich nach London geflogen, wo eines der Herzen der Finanzwelt schlägt. Am Canary Wharf in den Londoner Docklands, wo zu Zeiten des britischen Empire die Schiffe von den Kanarischen Insel anlegten, ist in den neunziger Jahren Londons neues Bankenviertel entstanden. Neben der Wallstreet der wohl wichtigste Handelsplatz der Welt. Hier werden jeden Tag unvorstellbare Summen umgewälzt, verdient und verbrannt. Sobald man aus der U-Bahn steigt, fallen einem hier sofort die gläsernen Bürotürme der Banken ins Auge. Ob Citigroup, Bank of America, Barclayâs Bank, Credit Suisse, Morgan Stanley oder die HSBC: Alle groÃen Finanzinstitute sind am Canary Wharf vertreten. Diese Gegend ist gemeint, wenn man in Finanzkreisen von der Londoner City spricht und damit den europäischen Ableger der global operierenden Finanzindustrie meint: Spekulanten, Hedgefonds und Banken. Im Zentrum des Canary Wharf liegt mein Ziel, die europäische Zentrale von Reuters, der Firma, die 1850 gegründet wurde und sich seitdem einen Namen als weltweit bekannteste Nachrichtenagentur gemacht hat. Genauer gesagt, ist es inzwischen die Zentrale von Thomson Reuters, wie das Unternehmen seit der Fusion mit dem kanadischen Medienkonzern Thomson eigentlich heiÃt. Bei Reuters arbeitet man tagtäglich emsig daran, die Grenzen des zeitlich Möglichen immer weiter zu verschieben. Man könnte es auch so formulieren: Reuters arbeitet an der Abschaffung von Raum und Zeit, an der weltweiten »Vergleichzeitigung«, am ewigen Jetzt. Auch bei Reuters hat es eine Weile gedauert,
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