Spektrum
stimmte Ernesto kurzerhand zu. »Ich blättre derweil in einem Ihrer Bücher …«
Auf dem Tisch lag das zerfledderte Werk von Garnel und Tschistjakowa, das bei dem Artikel zur Rasse Chri aufgeschlagen war, welche die beiden Autoren der Xenophobie und des Kannibalismus bezichtigten. Poluschkin betrachtete das Foto, das eine Art gigantischen Hummer an einem sumpfigen Ufer zeigte. Sein Gesicht zuckte nicht einmal.
Martin ging duschen.
»Einsam ist es hier und traurig«, sagte der Schließer. »Sprich mit mir, Wanderer.«
Vorab dachte Martin sich nie eine Geschichte aus. Teilweise war dies Aberglauben geschuldet, denn er befürchtete, eine ausgedachte Geschichte vermöchte sich auf irgendeine mystische Weise zu materialisieren, sodass andere Reisende sie in Erfahrung bringen konnten. Teilweise ging es auch auf seinen Eindruck zurück, Schließer wussten Improvisation zu schätzen.
»Ich möchte von einem Menschen und seinem Traum erzählen«, fing Martin an. »Es handelt sich dabei um einen durchschnittlichen Menschen, der auf dem Planeten Erde lebte. Auch sein Traum war ein durchschnittlicher, ein schlichter, den ein anderer nicht einmal für einen Traum erachtet hätte … Er wollte ein gemütliches Häuschen, ein kleines Auto, eine geliebte Frau und brave Kinder. Der Mensch vermochte indes nicht nur zu träumen, sondern auch zu arbeiten. Er baute sich ein Haus, das nicht einmal allzu klein ausfiel. Er traf eine junge Frau, in die er sich verliebte und die dieses Gefühl erwiderte. Der Mann kaufte sich ein Auto, damit er auf Reisen gehen und schneller von der Arbeit nach Hause kommen konnte. Er kaufte sogar ein weiteres Auto, für seine Frau, damit sie sich ohne ihn nicht allzu sehr langweilte. Sie bekamen Kinder, und zwar nicht eins und auch nicht zwei, sondern vier wohlgeratene, aufgeweckte Kinder, die ihre Eltern liebten.«
Der Schließer lauschte. Er saß auf einem kleinen Sofa in einem der kleinen Zimmer der Moskauer Station und hörte Martin aufmerksam zu.
»In dem Moment, da sich der Traum des Mannes erfüllt hatte«, fuhr Martin fort, »überkam ihn unversehens Einsamkeit. Seine Frau liebte ihn, seine Kinder vergötterten ihn, das Haus war gemütlich, und alle Wege der Welt standen ihm offen. Gleichwohl fehlte ihm etwas. Und dann, in einer dunklen Herbstnacht, als ein kalter Wind die letzten Blätter von den Bäumen riss, trat der Mann auf den Balkon seines Hauses und schickte seinen Blick auf Wanderschaft. Er suchte seinen Traum, ohne den es sich so schwer lebte. Denn der Traum von einem Haus hatte sich in Mauern aus Ziegelstein verwandelt und damit aufgehört, ein Traum zu sein. Alle Wege standen ihm offen, im Auto sah er nunmehr ein aus Teilen bunten Metalls zusammengeschweißtes Ding. Selbst die Frau, die in seinem Bett schlief, war eine gewöhnliche Frau, kein Traum von der Liebe. Ja, sogar die Kinder, die er liebte, waren durchschnittliche Kinder, nicht der Traum von Kindern. Und der Mann sann darüber nach, wie schön es wäre, aus seinem herrlichen Haus hinauszutreten, dem Kotflügel des Luxuswagens einen Tritt zu verpassen, der Frau zuzuwinken, die Kinder zu küssen und für immer fortzugehen …«
Martin atmete durch. Schließer lieben Pausen, aber momentan ging es um etwas anderes: Martin wusste noch nicht, wie er seine Erzählung zu Ende führen sollte.
»Und ging er fort?«, fragte der Schließer und gab damit Martin den Hinweis, wie die Geschichte zu beenden sei.
»Nein. Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, streckte sich neben seiner Frau aus und schlief ein. Nicht gleich, sondern erst nach einer Weile. Danach hat er es vermieden, das Haus zu verlassen, wenn der Herbstwind mit den niedersegelnden Blättern spielte. Der Mann hatte etwas erfasst, das manchen Menschen bereits in ihrer Kindheit aufgeht, viele jedoch bis ins hohe Alter nicht zu verstehen vermögen. Er hatte begriffen, dass er nicht von Dingen träumen durfte, die zu erreichen waren. Seit jenem Tag trachtete er danach, einen neuen, einen echten Traum für sich zu finden. Natürlich misslang das. Statt dessen lebte er dann jedoch den Traum vom echten Traum.«
»Dies ist eine sehr alte Geschichte«, meinte der Schließer nachdenklich. »Eine alte und traurige. Gleichwohl hast du meine Trauer vertrieben, Wanderer. Tritt durch das Große Tor und mache dich auf den Weg.«
Die Zeit für die Wahl wird durch nichts eingeschränkt, allenfalls durch Hunger und Durst. Einmal hatte Martin mehr als sechs Stunden vor dem Computer
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