Spektrum
schönen jungen Frau ohne Frage nahe gegangen.
»Ich werd’s ausrichten«, versicherte Martin.
»Normalerweise passiert hier selten was«, fuhr der Mann fort. »Ab und an verirrt sich so ein Idiot zu uns, der durch die Steppe reiten und wild um sich ballern will. Doch solche Typen bringen wir rasch zur Vernunft.«
»Das steht euch noch bevor, keine Sorge«, sagte Martin. »Sowohl Schießereien zu Pferd, ausgeraubte Postkutschen und Überfälle der Indianer. Wenn ihr erst mal mehr als hunderttausend Einwohner zählt, geht’s los.«
Der Mann zeigte sich leicht beleidigt. »Die Indianer sind friedlich«, schnaubte er. »Wir kommen gut mit ihnen aus …«
Martin schnappte sich seinen Rucksack und stieg aus. In seinem Kopf wirbelten die unterschiedlichsten Pläne durcheinander, wobei der von einem heißen Bad alle anderen ausstach.
»Geht’s nach Hause?«, rief der Hilfssheriff Martin hinterher.
»Sicher«, log Martin munter.
Mit diesen Worten steuerte er auf die Vortreppe zu.
Dieser Schließer musste ein Abstinenzler sein. Oder es gab ein Alkoholverbot auf Prärie 2. Während er gestern Limonade getrunken hatte, griff er heute zu frisch gepresstem Orangensaft.
Das höflich angebotene Getränk lehnte Martin nicht ab. Er trank es, zündete sich eine Zigarette an und ordnete seine Gedanken. Mit wohlwollendem Blick beobachtete der sich in seinem Korbstuhl flegelnde Schließer Martin, anscheinend bereit, bis zum Abend auf seine Geschichte zu warten.
»Es ist sehr interessant, in fremde Fenster zu spähen«, fing Martin an.
Der Schließer zappelte ein wenig herum, bis er eine noch bequemere Stellung gefunden hatte. Er goss sich ein neues Glas Saft ein und gab einige Eiswürfel aus einem Kühler hinzu.
»Nicht nur flüchtig hineinzulugen«, fuhr Martin fort, »sondern regelrecht hineinzuspähen. Die Menschen gehen ja immer davon aus, ihr Zuhause sei ihre Festung. Die Menschen mögen keine aufdringlichen Gäste. Vielleicht erklärt das auch, warum wir euch nicht lieben, denn ihr seid ungebeten gekommen, habt nicht um Erlaubnis dazu gefragt, was wir nur zu gern erlaubt hätten … Doch über jeder Festung weht eine Fahne. Selbst wenn diese Flaggen lediglich die Vorhänge in unseren Fenstern sind. Des ungeachtet bleiben es Fahnen. Sie sind gehisst für den Passanten auf der Straße, der den Blick hebt. Für die Leute im Haus gegenüber. Selbst für den Perversen, der am eigenen Fenster hockt und mit einem Feldstecher zwischen den Vorhängen herauslugt! Als Fahne kann alles Mögliche herhalten. Tüll mit Spitze und elegante Stores, Doppelglasfenster und eine Jalousie. Der Tannenbaum, der zu Neujahr mit Zahnpasta auf die Scheibe gemalt wird. Die Blumentöpfe oder ein Plüschtier auf dem Fensterbrett. Ein Aquarium mit Fischen oder eine Vase mit einer vertrockneten Rose. Selbst verdreckte Fenster, hinter denen zerfetzte Tapeten und eine nackte Glühbirne an der Strippe auszumachen sind, stellen eine Fahne dar. Und sei es die weiße Fahne, mit der man vor dem Leben kapituliert … Mir gefallen Städte, in denen man die Fahnen ohne Furcht aufzieht. In der Regel sind das fremde Städte … In Russland hat man uns zu lange eingebläut, auf eine eigene Fahne zu verzichten. Mir gefällt es, wenn die Menschen sich nicht scheuen, auf sich selbst stolz zu sein. Mir gefällt es, fremde Flaggen zu grüßen.«
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Dann fuhr er, den Blick auf den Schließer gerichtet, fort: »Mich würde interessieren, ob die Menschen meine jeweilige Fahne erkennen. Manchmal stelle ich eine alte schöne Lampe mit einem matten Schirm aufs Fensterbrett, die ich die ganze Nacht eingeschaltet lasse. Einfach so. Damit jemand, der vorbeikommt, das Licht sieht und glaubt, hier lese jemand ein gutes Buch oder brüte über einem verzwickten Theorem, mache Liebe oder sitze am Bett eines kranken Kindes. Damit er irgendetwas denkt. Solange nur niemand dahinterkommt, dass ich kein eigenes Banner habe.«
Abermals verstummte Martin, goss sich Saft ein.
Der Schließer rutschte in seinem Sessel hin und her. »Du hast meine Einsamkeit und meine Trauer vertrieben, Wanderer«, murmelte er verschlafen. »Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort.«
Martin, der keinesfalls die Absicht gehabt hatte, die Geschichte so schnell zu beenden, verschluckte sich am Saft. Umgehend versuchte er, seine Verlegenheit zu verbergen. »Vielen Dank, Schließer«, meinte er nickend. »Ich glaube, vor mir liegt ein langer Weg. Denn ich
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