Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
ein Füllfederhalter – was brauchte ein Mensch sonst, um eine Situation vernünftig auszuwerten?
    Zunächst malte Martin zwei Kreise und schrieb »Irina 1« und »Irina 2« darunter. Dann strich er sie durch. Neben sie zeichnete er einen dritten Kreis, »Irina 3«, den er mit einem fetten Fragezeichen versah.
    In diesem Stadium versank Martin in tiefe Grübeleien.
    Bibliothek. Prärie. Arank.
    Drei Planeten. Auf den beiden ersten fanden sich gewisse alte Artefakte, die Irina Poluschkina zu untersuchen gedacht hatte. Die Welt der Aranker war alt an sich, und natürlich hatten die Aranker die Geheimnisse ihres Planeten längst erforscht. Weshalb konnte sich Irina also dorthin begeben haben?
    Die entscheidende Frage jedoch, wie sich das eine Exemplar Irina Poluschkina in die drei leichtsinnigen Frauen verwandelt hatte, beschloss Martin vorerst außer Acht zu lassen. Die Version mit den Zwillingsschwestern, die er dem Sheriff aufgetischt hatte, zog er selbstverständlich nicht ernstlich in Erwägung. Vielmehr dürften die Schließer dabei ihre Hände im Spiel haben. Ihnen wäre zuzutrauen, dass sie die junge Frau kopierten. Nur, wozu?
    In höchstem Maße beunruhigten Martin zudem die beiden Todesfälle. Noch ließen sie sich als ärgerliche Zufälle werten, selbst wenn allmählich hinter den Ereignissen ein System aufschimmerte, ein unangenehmes, düsteres, dem menschlichen Verstand möglicherweise nicht zugängliches System.
    Seufzend warf Martin ein Quadrat aufs Papier, mit dem er, einer Laune folgend, sich selbst symbolisierte. Eine Wahl konnte das Quadrat kaum treffen. Entweder es kehrte zur Erde zurück – Martin zog am unteren Rand des Blatts eine dicke Linie – und rechtfertigte sich gegenüber Ernesto Poluschkin. Oder es stattete dem Planeten der Aranker einen Besuch ab, um dort nach der hypothetischen dritten Irina zu suchen, die er gegen alle denkbaren Gefahren zu schützen trachten würde … die er zur Heimkehr überreden würde … die er zwingen würde, ein Papier zu unterschreiben, in dem sie die Rückkehr ausdrücklich verweigerte.
    Bei dem Gedanken an dieses Papier fiel Martin prompt Irinas Brief ein, den sie zehn Minuten vor ihrem Tod im Saloon geschrieben hatte. Der Sheriff hatte ihn aufs Penibelste untersucht, sich dann aber bereit gefunden, ihn Martin auszuhändigen, damit er ihn Irinas Eltern übergab. Jetzt holte Martin den Brief heraus und las ihn mit gerunzelter Stirn durch, dabei gegen den Eindruck ankämpfend, die Schreiberin mache sich offen über ihn lustig.
    Liebe Mama und lieber Papa!, schrieb Irina. Mir geht es gut, was ich auch euch wünsche. Dieser nette junge Mann – was für eine Impertinenz seitens einer Siebzehnjährigen! – hat mir eure Grüße überbracht und mich gefragt, ob ich nicht nach Hause kommen wollte. Nein, das habe ich noch nicht vor. Es läuft alles zu gut, als dass ich es jetzt unterbrechen wollte. Wie geht es Homer? Vermisst er mich? Gebt ihm einen Kuss von mir, bald kriegt er ein feines Knöchlein. Damit beende ich diesen Brief, eure geliebte Irina.
    Martin hielt sich in Sachen Familienangelegenheiten für keinen Experten, doch die Bitte, den Hund zu küssen, in Kombination mit dem spöttischen Ton des Briefes und der Unterschrift »eure geliebte Irina« irritierte ihn. Offenbar scherte sich das Mädchen einen Dreck um ihre Eltern, glaubte, sie ließen ihr alles durchgehen, und stellte sich als zutiefst kaltherziges Wesen heraus.
    Nur passte das nicht zu dem Schrei »Nicht schießen!« und der Verzweiflung, mit der sie sich zwischen die Kontrahenten geworfen hatte, um eine Schießerei zu verhindern. Ob in diesem Brief Familienstreitigkeiten nachhallten? Falls Ernesto seine geliebte Tochter verprügelt oder sonstwie seine Macht demonstriert hatte, stellte das im Alter von siebzehn Jahren einen ernst zu nehmenden Grund dar, beleidigt zu sein …
    Ächzend steckte Martin den Brief in den Umschlag und verstaute ihn, zusammen mit Irinas Jeton, im Rucksack. Die Kette mit dem Kreuz hatte er ihr diesmal nicht abgenommen, da man ihm versprochen hatte, Irina nach christlicher Sitte zu bestatten.
    »O nein, man hat dir in deiner Kindheit eine Tracht Prügel zu wenig verabreicht«, sagte Martin gedankenversunken. Dabei ertappte er sich dabei, wie er mit Irina nicht wie mit einer Toten sprach, sondern tief und fest davon überzeugt war, ihr abermals zu begegnen.
    In diesem Fall sollte er freilich nicht trödeln.
    Martin zog sich an, warf die schmutzigen Socken und die

Weitere Kostenlose Bücher