Spektrum
Reagenzröhrchen ins andere goss? Oder brütete sie mit gerunzelter Stirn über einem alten Manuskript, das alle Geheimnisse des Universums enthüllte?
Martin klopfte an. Nach kurzem Warten öffnete er die Tür, die nicht abgeschlossen war.
In dem langen weißen Gang gab es niemanden. Kein einziger Laut drang an sein Ohr.
»He, Hausherrin, du hast Besuch!«, gab sich Martin bewusst fröhlich.
Kein Laut.
Prompt stellte Martin sich vor, wie Irotschka stumm in einer Schlinge hing. Oder mit hervortretenden Augen erstarrte, in der steifen Hand ein Reagenzglas mit eben gemischtem Gift. Oder wie sie von einem wahnsinnigen Roboter ermordet worden war, der selbst die Geheimnisse des Universums lüften wollte …
Martin holte seine »Wespe« aus der Hülle, ein Messer, das für den Kampf im Grunde nicht geeignet war, sich jedoch in geschickten Händen als dienlich erweisen konnte. Er ließ den Rucksack und den im Futteral steckenden Karabiner an der Tür zurück – wenn er doch bloß den »Kaugummi« aus dem Lauf kriegen könnte …
Dann ging er den Gang entlang und öffnete eine Tür nach der anderen.
Die Küche. Klein, sauber und gemütlich.
Das Schlafzimmer. Ein ungemachtes, zerwühltes Bett.
Gut. Irina musste hier also auch wohnen. Eine durch und durch vernünftige Lösung.
Zwei Zimmer dienten als Labor. Im einen fanden sich – ganz wie in Martins Phantasiegespinsten – Reagenzgläser und Thermostate. In dem anderen standen Apparate und Computer, selbst eine Drehmaschine gab es, deren Schneidwerkzeug wie wild fuhrwerkte, indem es einen komplizierten Bogen um ein fest fixiertes Detail beschrieb. Nachdem Martin die Maschine eine Zeit lang beobachtet hatte, kam er zu dem Schluss, hier würde aus einem Plastikrohling eine Art Schöpfkelle für den Küchenbedarf hergestellt. Bemerkenswerterweise traf er Irotschka auch hier nicht an.
In einem weiteren Raum widmete man sich augenscheinlich ebenfalls der Wissenschaft – welcher genau, musste freilich als Frage offen bleiben. Im Zimmer gähnte vollständige Leere, die Wände bedeckten schwarze Spiegel, die das Licht verschluckten. In der Raummitte hing an dünnen Fäden eine weiße Scheibe mit einem Durchmesser von zwei Metern von der Decke herab. Auf der Scheibe befand sich wiederum nichts.
Martin schloss die Tür, denn aus irgendeinem Grund beschwor das Zimmer ein unangenehmes Gefühl in ihm herauf.
Erst ganz am Ende des Gangs traf er, nachdem er die Tür dort geöffnet hatte, auf Ira Poluschkina.
Das war ihr Arbeitszimmer, ein sehr gediegenes Arbeitszimmer, das in einem sofort den Wunsch weckte, sich an die Arbeit zu machen oder sich zumindest einen geschäftigen Anschein zu geben. Robuste Bücherschränke, ein monumentaler Schreibtisch aus Holz, auf dem ein riesiger Computerbildschirm, eine Lampe mit grünem Schirm und ein rundes Aquarium mit träge einherschwimmenden, bunten Fischen thronten. Auf dem Boden lagen weiche Teppiche. Aus dem Fenster blickte man in einen kleinen blühenden Garten, der die Nachbargebäude dem Blick entzog. Alles wirkte so gepflegt und ordentlich, dass Martin sich in seinem unmanierlichen Aufzug – von dem fest in der Hand gepackten Messer ganz zu schweigen – recht unwohl fühlte.
Ira Poluschkina stand am Fenster und starrte Martin an. Sie hatte ihn erwartet, denn mit ziemlicher Sicherheit gab es im Gang versteckte Videokameras.
»Martin«, ergriff die junge Frau das Wort. Das klang weder nach einem Gruß noch nach einer Frage. Eher als konstatiere sie eine Tatsache. Die Tatsache »Martin«.
»Guten Tag, Ira«, erwiderte Martin. Mit einem entschuldigenden Lächeln steckte er das Messer weg. »Verzeihen Sie mir, die Situation … hat mich ein wenig erschreckt.«
Irotschka Poluschkina sah fabelhaft aus. Sie war nicht entsprechend der arankischen Mode gekleidet, sondern trug ein schlichtes weißes Kleid mit geschlossenem Ausschnitt und kurzen Ärmeln. Eine reizende junge Frau, die sich anschickte, einen sittsamen Spaziergang mit ihren Eltern zu machen … Unwillkürlich musste Martin lächeln.
»Martin«, wiederholte Irina. »Warum verfolgen Sie mich eigentlich?«
»Ich weiß nicht, woher Sie meinen Namen kennen, Ira«, erwiderte Martin. »Aber Sie müssen irgendetwas verwechseln. Ich verfolge Sie nicht. Ich bin ein ganz normaler Privatdetektiv, den man mit einer ganz normalen Bitte beauftragt hat, nämlich Sie zu finden und zu fragen, ob Sie Hilfe brauchen.«
»Wer hat Sie angeheuert?«, fragte Irina angespannt.
»Ihr
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