Spiegel E-Book - Nelson Mandela 1918-2013
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SPIEGEL-TITEL 17/1994
SIEG DER KNECHTE
Stunde Null am Kap: Das einstige weiße Herrenvolk der Buren tritt die Macht an die schwarze Mehrheit ab. Südafrikas Revolution beseitigt die letzte Zitadelle des Kolonialismus. Versinkt das Landim Bürgerkrieg, oder schafft es den Sprung zur erstenWohlstandsdemokratie auf dem Elendskontinent Afrika?
Der Farmer Jannie Crafford hat sich für das große Chaos gerüstet. Wenn die Geschichte des rassistischen Südafrika zu Ende ist und die Schwarzen nach den ersten freien Wahlen die Macht übernommen haben, will er sich mit der Familie in seinen Turm zurückziehen. Den vierstöckigen Bunker hat er sich auf seiner Plantage bei Barberton in Transvaal gebaut.
Die Trutzburg verfügt über einen 5000-Liter-Wassertank, Schießscharten und eine 30 Zentimeter dicke Stahldecke. Den Zugang sichert eine Eisentür. Seinen Töchtern Lizeite, 5, und Solene, 2, richtete Crafford im Innern ein bombensicheres Spielzimmer ein.
Das Bollwerk des Buren ist versteinerter Ausdruck der Angst, die viele weiße Südafrikaner vor der Stunde Null erfaßt hat. Das einstige Herrenvolk am Kap, das so lange im blinden Glauben an die eigene Stärke und Gottes Schutz gefangen war, fürchtet die entfesselte Mehrheit von 30 Millionen Schwarzen.
„Amandla ngawethu“, alle Macht dem Volk: Der Kampfruf, den die schwarzen Massen den Wächtern des Apartheidstaats über Jahrzehnte ohnmächtig entgegenschleuderten, geht jetzt in Erfüllung. Für die Weißen sind die „Tage der Lüge“ (so heißt der erste große Roman der südafrikanischen Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer) endgültig gezählt: Der Burenstaat erlebt eine Revolution, die auf ihren Kulminationspunkt zusteuert und die weißen Kinder Afrikas fressen könnte.
Wird die Befreiung der Unterdrückten zugleich zum Tag der Abrechnung mit den Unterdrückern? Muß Europa am Ende gar die fünf Millionen Weißen bei sich aufnehmen, weil der Haß der Schwarzen nicht zu besänftigen ist?
Oder gelingt ein Experiment, das bisher unvorstellbar schien - die Aussöhnung von Herr und Knecht, der Aufbau der ersten demokratischen, multikulturellen, hochzivilisierten Gesellschaft auf dem Elendskontinent Afrika?
Die Vorzeichen stehen nicht gut. Die Bereitschaft des Zulu-Chefs Buthelezi, in letzter Minute doch noch mit seiner Inkatha-Freiheitspartei an der Wahl teilzunehmen, hat die Gewalt zwar eingedämmt. Aber in Teilen des Landes schwelt weiterhin ein fürchterlicher Machtkampf, schwarz gegen schwarz zumeist, der seit Beginn des Jahres über 2000 Todesopfer forderte.
Hinter den glänzenden Fassaden der Ersten lauert die Anarchie der Dritten Welt. Angst vor dem Rassenkrieg greift um sich. Noch ist das Fundament für die friedliche Koexistenz von Schwarzen und Weißen brüchig.
Aufgeschreckte Hausfrauen kaufen die Regale der Supermärkte leer. Um ihre mit Hamstergut vollgestopften, stacheldrahtbewehrten Villen zu schützen, erwarben die weißen Südafrikaner Waffen wie nie zuvor. Damen der gehobenen Gesellschaft in Pretoria wie Bauersfrauen auf dem „platteland“ trainieren auf Schießplätzen mit Revolvern und Gewehren.
Defätismus ist bei den Buren als Schwäche verpönt. Diejenigen Südafrikaner, die wie schon so oft in ihrer Geschichte die Wagenburg vor dem Ansturm schließen wollen, verhöhnen Landsleute, die sich auf den „chickenrun“ begeben - die ihre Häuser verkauft haben und wie aufgescheuchte Hühner die Heimat verlassen. Die Flüge der South African Airways sind über Wochen ausgebucht. Viele Passagiere verzichteten auf ein Rückflugticket.
Dabei geben die Herrschenden ihre Macht ab, ohne geschlagen und besiegt worden zu sein - am Verhandlungstisch und durch demokratische Wahlen. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Geschichte macht Frederik Willem de Klerk, 58, den weißen Präsidenten, zum letzten Helden im burischen Epos.
Sein Nachfolger wird ein ehemaliger Gefangener des Apartheidregimes, der in 27 Jahren Haft zum Staatsmann reifte: Nelson Mandela, 75. Der große alte Mann des schwarzen Befreiungskampfes verkörpert Südafrikas letzte Hoffnung - weil er trotz erlittenen Unrechts nicht auf Rache, sondern auf Versöhnung sinnt.
Für Afrika ist die Umwälzung so bedeutsam wie der Zusammenbruch des Kommunismus für Europa oder der Handschlag zwischen Israels Ministerpräsident Rabin und dem PLO-Vorsitzenden Arafat für den Nahen Osten.
Nur: Wo in Afrika leben Völker und Stämme friedlich zusammen? Seit dem Ende der Kolonialzeit
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