Spiegelschatten (German Edition)
Björn in eine Zelle stecken und erst wieder rauslassen, wenn der Mörder verhaftet ist. Maxim am besten gleich mit. Und alle, mit denen die beiden befreundet sind.
Und sämtliche Schwulen der ganzen Welt.
Wenn man den Gedanken zu Ende denkt, merkt man, dass Schutz eine Illusion ist. Diesen Mörder kann man nur stoppen, indem man ihn stellt.
Romy hob den Kopf und alles war wie immer. Die Gesichter der Kollegen und Kolleginnen, ihre Stimmen, die Geräusche, der leichte Kaffeeduft, der in der Luft lag, und doch war plötzlich etwas anders geworden.
Sie wichen ihrem Blick aus.
Als klebte das Unglück an Romys Kleidern, ihren Haaren, ihrer Haut.
Der Tod.
Sie alle wussten längst, dass sie persönlich in die Mordserie verwickelt war. Dass ihr Bruder im Mittelpunkt der Verbrechen zu stehen schien. Dass ein vierter Mord geschehen war. Wahrscheinlich war jedem von ihnen inzwischen auch bekannt, dass sie gestern einen Drohbrief erhalten hatte.
Schnüfflerin.
» Du arbeitest nicht weiter daran«, hatte Greg eben noch in seinem Büro zu ihr gesagt, doch Romy hatte ihn angefleht, ihr die Geschichte nicht abzunehmen.
Sie würde sich nicht hinter seinen breiten Schultern verstecken.
» Bedingung ist, dass du mich über jeden deiner Schritte auf dem Laufenden hältst«, hatte er schließlich nach langem Überlegen zugestimmt.
Welche Schritte?, hatte sie sich gefragt, denn sie hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Dabei lag das nur an dem wahnwitzigen Tempo, mit dem der Mörder vorging.
Vorging.
Sie dachte über das Wort nach und fand es völlig unzureichend. Es drückte nicht annähernd aus, wie grauenvoll seine Taten waren. Eben das musste ihr gelingen– eine Sprache dafür zu finden, die sich abhob vom sachlichen Polizeijargon und dem Fachchinesisch der Rechtsmedizin.
Noch hatte Romy nichts Wesentliches in Erfahrung gebracht. Vielleicht hatte sie die falschen Fragen gestellt. Oder sie hatte sich an die falschen Leute gewandt.
Ein Gedanke hatte sie in der Nacht hartnäckig verfolgt und sie vergeblich nach Schlaf suchen lassen: Warum hatte Björn diese Warnungen vom Mörder erhalten?
Leonard, Sammy, Tobias und Josch hatten allem Anschein nach keine bekommen. Romy hatte deswegen mehrmals telefoniert, mit Freunden, Bekannten und Familienangehörigen gesprochen, doch keiner der Toten hatte irgendjemandem gegenüber ein anonymes Schreiben erwähnt.
Aus welchem Grund trieb der Mörder also ausgerechnet mit Björn sein makabres Spiel?
Hatte er eine Rechnung mit ihm zu begleichen? Ging es ihm gar nicht um Björns Freunde? Tötete er sie bloß, um Björn damit zu quälen? Waren sie lediglich der Anfang? Sollte Björns Tod der Höhepunkt sein? Der Anfang und Höhepunkt von was?
Romy massierte sich die Schläfen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.
Was, in drei Teufels Namen, konnte ihr Bruder getan haben, um eine Mordserie auszulösen?
Was war der Motor hinter den Morden?
Hass?
Wieso tötete der Mörder nur die schwulen Freunde?
Und warum nicht denjenigen, der Björn am nächsten stand? Maxim?
Weil Maxim nicht schwul war, sondern bisexuell? Fiel er deshalb aus dem Raster des Mörders? Oder hatte sich der Wahnsinnige so etwas wie eine Dramaturgie ausgedacht? Waren Maxim und Björn einfach noch nicht an der Reihe?
Romy schwirrte der Kopf. Sie beschloss, ihre Überlegungen niederzuschreiben. Vielleicht wurden sie ihr dann klarer.
Ein paar Minuten tippte sie wie besessen. Dann überflog sie, was sie geschrieben hatte, und schüttelte den Kopf. Wie konnte sie erwarten, etwas zu begreifen, das unbegreiflich war?
Und doch gab es diesen Mörder.
Und er dachte nicht daran, aufzuhören.
Romy beugte sich über ihren Laptop und stellte eine Liste derer auf, die zu Björns Freundeskreis gehörten. Die Namen Leonard, Sammy, Tobias und Josch setzte sie kursiv. Dann rief sie Björn an.
» Ich brauche die Namen aller, zu denen du eine Beziehung unterhältst«, bat sie ihn. » Egal wie eng oder distanziert sie auch sein mag.«
» Nicht die von Mädchen, nehme ich an.«
» Bingo.«
» Wozu soll das gut sein, Romy?«
» Wir müssen einfach irgendwo anfangen. Immer wieder. Bis wir auf dem richtigen Weg sind.«
Björn versprach, die Liste zusammenzustellen und sie ihr auf den Rechner zu schicken.
Romy wandte den Kopf und sah, dass Greg sie aus seinem Büro beobachtete. Im Gegensatz zu den Kollegen schaute er nicht peinlich berührt weg, als ihre Blicke sich trafen.
Romy lächelte ihm zu. Er brauchte nicht zu
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