Spiel der Angst (German Edition)
dauerten. Lange dauerten sie nämlich nie.
Er sortierte die Fotos, die er von der Leiche in seinem Smartphone gemacht hatte. Eines davon würde er verschicken. Sehr bald.
Und er wusste auch schon, an wen.
17
Lisa war tatsächlich schon wach gewesen.
Sie saßen gemeinsam bei einem Kaffee in der Butler Library am Südende des Columbia Campus. Lisa hatte ein Buch über antike Religionen und Kulte gefunden, darunter auch einiges über die babylonische Mythologie.
»Und dieser Typ hat euch in London immer auf so seltsame Schnitzeljagden geschickt?«, wollte Lisa wissen.
Emily nickte. »Wir mussten immer unter Zeitdruck irgendwelche komplizierten Rätsel lösen. Und wenn uns das nicht gelungen ist …« Sie schluckte. »Wenn uns das nicht gelungen ist, hat er gedroht, jemanden umzubringen. Und diese Drohung hat er tatsächlich ein paar Mal wahr gemacht.«
»Ach du Scheiße! So eine Art Geocaching für Psychopathen?«
Geocaching, dachte Emily. Ja, das traf es. Beim Geocaching ging man auch auf digitale Schnitzeljagd. Ausgestattet mit einem GPS-Handy und den Koordinaten eines versteckten Schatzes aus dem Internet, konnte man diese Schätze finden und sich ungewöhnliche Orte anschauen. Ruinen, Waldlichtungen, Bunker und anderes. Und es hing von der eigenen Cleverness ab, ob man den Schatz fand oder nicht.
Nur, bei diesem Spiel handelte es sich um eine ganz besondere Art von Geocaching. Es war ein Spiel, bei dem die Konsequenz für das Nicht-Finden des Schatzes der Tod anderer Menschen war. Oder der eigene Tod.
»Und was steht in dem Brief?«, fragte Lisa. »Lies mal vor.«
Emily nahm eine Kopie des Briefs zur Hand. Sie hatte das Original vorhin kopiert und in eine Klarsichthülle gesteckt, damit sie der Polizei mögliche Fingerabdrücke des Verrückten zeigen konnte. Wobei sie nicht glaubte, dass derjenige, der den Brief geschrieben hatte, so dumm gewesen war, Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Dir, König Nebukadnezar, sei gesagt: Die Herrschaft wird dir genommen. Man wird dich aus der Gemeinschaft der Menschen ausstoßen. Du musst bei den wilden Tieren leben und dich vom Gras ernähren wie die Ochsen.
Lisa nickte. »Weiter.«
So werden sieben Zeiten über dich hingehen, bis du erkennst, dass der Höchste über die Herrscher bei den Menschen gebietet und sie verleiht, wem er will. Noch in derselben Stunde erfüllte sich dieser Spruch an Nebukadnezar …«
»Nebukadnezar?«, wiederholte Emily. Sie kniff die Augen zusammen. »Ryan sagt, so hieße das Hovercraft in Matrix .«
Emily hatte Matrix zwar gesehen, erinnerte sich aber nicht mehr so genau daran.
Lisa lächelte. »Das ist typisch Mann. Ich glaube, er hat recht, das Hovercraft hieß auch Nebukadnezar. Aber vor allem hieß so der König von Babylon.«
»Babylon!« Emily zog die Augenbrauen hoch.
»Aber weiter im Text«, sagte Lisa. »Was steht denn hier noch?«
Man verstieß ihn aus der Gemeinschaft der Menschen, und er musste sich vom Gras ernähren wie die Ochsen. Der Tau des Himmels benetzte seinen Körper, bis seine Haare so lang wie Adlerfedern waren und seine Nägel wie Vogelkrallen.
»Das klingt so, als wäre es aus der Bibel«, sagte Lisa. »Irgendwas im Alten Testament. Aber frag mich nicht, wo.« Sie schaute Emily an. »Meinst du, er ist auch von –«
»Von ihm ?« Sie schauderte, als sie es aussprach. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber da ist noch etwas anderes.« Sie rückte auf ihrem Stuhl hin und her.
»Dieser Brief«, sagte sie. »Er handelt von jemandem, der verstoßen wird. Der plötzlich weg ist. Und genau das ist gestern Abend passiert. Da, wo Ryan sein sollte, war nur noch eine Kleiderpuppe mit Ryans Klamotten.«
»Aber Ryan war doch noch da.«
»Ja, aber es könnte eine …« Sie wollte es nicht aussprechen, weil sie nicht wollte, dass das, was sie aussprach, wirklich passieren würde. War der Geist erst einmal aus der Flasche, sagte ihr Vater immer. Sie druckste herum. »Es könnte doch eine Warnung sein, dass es wirklich passieren wird.«
Sie schwiegen beide und tranken bedächtig ihren Kaffee. Dann schaute Emily auf das Buch, das Lisa auf dem Tisch vor sich liegen hatte. Sie schielte auf den Titel.
Sumerische Mythologie.
»Was ist das?«
»Das scheint ziemlich grausig zu sein«, antwortete Lisa und las vor. »Ein Buch über die sumerischen Götter. Bel, der Sonnengott, zerteilte das Universum in Himmel und Erde, Tag und Nacht, Sonne, Mond und Sterne. Als die urweltlichen Ungeheuer, die das Licht nicht ertragen
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