Spiel der Dämmerung - Feehan, C: Spiel der Dämmerung - Mind Game (Ghost Walkers # 2)
Anwesenheit nicht gestört, doch ein paar größere Spezies betrachteten ihn offenbar als Eindringling und schlugen empört mit den Flügeln. Kormorane, Fischreiher und Ibisse erhoben sich mit ihren großen Schwingen in die Lüfte und suchten sich ein ruhigeres Plätzchen. Die Frösche und Unken stimmten ihr abendliches Konzert an, das rhythmisch an- und abschwoll. Die grauen Moosflechten, die
in wirren Fetzen von den Ästen hingen, verwandelten die Bäume in der zunehmenden Dunkelheit in monströse Gespenster. Nicolas sah eine gewisse Schönheit in dieser ungewöhnlichen Umgebung. Er entdeckte verschiedene Schildkrötenarten und Eidechsen, manche von ihnen im Wasser, andere im Unterholz oder auf Ästen.
Während das Boot durch den Kanal glitt, ließ Nicolas den Blick fasziniert über das Wasser schweifen, das sich wie ein schwarzer Spiegel um ihn herum ausbreitete und die lodernden Farben des Sonnenuntergangs reflektierte. Seit je genoss er die Einsamkeit, die sein Job mit sich brachte. In der freien Natur fand er Frieden, und der Bayou ermöglichte ihm einen aufregenden Blick in eine andere Welt. Er war in der Abgeschiedenheit aufgewachsen, war mit seinem Großvater wochen-, ja sogar monatelang durch die Berge gewandert. Das waren glückliche Zeiten gewesen – ein kleiner Junge, der von einem weisen alten Mann das Leben in der Natur selbst erklärt bekam, dabei aber spielen und herumtollen konnte wie ein Kind – das er ja auch war. Bei der Erinnerung daran schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, und er dankte seinem Großvater, der schon lange von ihm gegangen war, aber in seinem Herzen weiterlebte, für diese kostbare Zeit.
Nicolas wusste, dass die Wildnis seine Heimat war. Hier fühlte er sich zu Hause. Oft überlegte er, dass er eigentlich zu einer anderen Ära gehörte, wo es weniger Menschen und viel mehr Natur gegeben hatte. Er war Lily freilich dankbar dafür, dass er ihr Haus benutzen durfte, und für die Mühen, die sie auf sich genommen hatte, um sie alle dazu zu befähigen, in der normalen Welt zu leben. Das Experiment ihres Vaters hatte ihre Gehirne für die ständigen Gefühlsanstürme der Menschen in ihrer Umgebung geöffnet,
und sie brauchten das Zuhause und das Training, das Lily ihnen bot. Doch Nicolas hatte immer noch Probleme damit, in enger Gemeinschaft mit anderen zu leben – was weniger mit der Intensivierung seiner übersinnlichen Fähigkeiten zu tun hatte, als vielmehr mit seiner Vergangenheit und seinem Naturell. Als er sich freiwillig gemeldet hatte, diese Frau in dem Sanatorium aufzuspüren, geschah das nicht nur aus Sorge um seine Teamgefährten, die er vor ihrem eigenen Mitgefühl schützen musste. Vielmehr ging es ihm darum, sich allein auf den Weg machen zu können, in eine Umgebung, wo er das Gefühl hatte, frei atmen zu können.
Zweimal hatte Nicolas die Karte zurate gezogen, die Lily ihm besorgt hatte. In dem Labyrinth von Kanälen und Flussarmen konnte man sich leicht verirren. Manche der Flussläufe waren so schmal, dass er das Boot gerade so eben hindurchsteuern konnte, wohingegen andere so breit waren, dass man sie für einen See halten konnte.
Lilys Vater, Dr. Whitney, hatte das Sanatorium absichtlich auf einer versteckten Insel eingerichtet, die überwiegend aus Marschland bestand, von der Vegetation überwuchert und noch weitgehend unberührt war. Die Insel lag so tief in diesem Gewirr von Kanälen verborgen, dass selbst die ansässigen Jäger nur eine unbestimmte Vorstellung davon hatten, wo genau sie sich befand. Lily hatte die detaillierte Landkarte in den Unterlagen der Stiftung gefunden, doch trotz der Karte und seinem untrüglichen Orientierungssinn hatte Nicolas alle Mühe, die richtige Insel zu finden. Er suchte immer noch danach, als die Nacht anbrach und den Bayou in ihr dunkles Tuch hüllte, was seine Mission nicht gerade erleichterte. Zweimal hatte er das Boot durch hüfttiefe, mit Schlingpflanzen durchsetzte Kanäle ziehen
müssen, und auch wenn ihm jetzt gelegentlich ein silberner Schimmer Mondlicht zu Hilfe kam, konnte er kaum unterscheiden, ob die dunklen Schatten im Wasser Alligatoren oder treibende Äste waren.
Als vor ihm eine kleine Insel auftauchte, sah Nicolas hinter einer dichten Baumreihe einige Vögel aufsteigen. Augenblicklich begann seine Haut zu prickeln, und sein Magen verkrampfte sich. Er stellte den Motor ab. Er ließ das Boot treiben, blieb ganz ruhig sitzen und lauschte den abendlichen Geräuschen. Bis vor kurzem noch hatten die
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