Spiel des Schicksals
Wenn ich jetzt für wie lange auch immer überleben wollte, dann müßte ich ganz stillhalten und so wenig wie möglich atmen.
Dann dachte ich an den Menschen, der sich mit mir in diesem Grab befand, der ebenso wie ich darin gefangen war und ebensowenig entfliehen konnte. König Tetef. Sein Körper lag nur ein paar Schritte von mir entfernt. Nur wenige Zentimeter trennten meine Augen von seinem zusammengeschrumpften Leichnam, der nach Jahrhunderten ungestörten Schlafes noch immer stumm und regungslos dalag, doch ich konnte ihn nicht sehen. Nahm er mir mein Eindringen übel? War seine altertümliche Auffassung von der Unantastbarkeit der Grabkammer verletzt worden? Welches Maß an Vergeltung mochte der geheimnisvolle alte Pharao, der so unsanft aus dem friedvollen Reich der Toten emporgeschreckt worden war, auf mich herabschicken, für Verbrechen, die ich niemals beging? O Lydia! schrie meine Seele. Beherrsche dich!
Als mir die Tränen wieder in die Augen stiegen, kämpfte ich verzweifelt dagegen an. Ich wußte, was mich jetzt so fürchterlich bestürzte. Verheerend wirkte auf mich nicht die Tatsache, daß ich in dem Grab gefangen war, sondern daß Achmed es gewesen war, der mich hier eingesperrt hatte. Wenn ein Mensch stirbt, so sagt man, zieht sein ganzes Leben noch einmal blitzschnell an seinen Augen vorbei. Ich erkannte jetzt, woher diese Vorstellung rührt, denn als ich spürte, wie meine Lungen nach Luft rangen und mein Körper, dem Erstickungstod nahe, immer schwächer wurde, da blickte ich auf mein bisheriges Leben zurück und dachte über die unglaubliche Wendung der Ereignisse nach, die mich zu dieser letzten Stunde geführt hatte. Als Krankenschwester, die ich mich der Menschheit und der Rettung von Leben verschrieben hatte, hatte ich noch nie zuvor für irgend jemanden Liebe empfunden. Verbittert über den Verlust meiner Eltern und meines Bruders, hatte ich obendrein noch die einzige Schwester, die mir geblieben war, von meiner Seite vertrieben und mein Herz einer Welt voller Liebe und Verheißung verschlossen. Dr. Kellerman war nicht imstande gewesen, den Schlüssel zu finden, aber John Treadwell hatte es geschafft, die Tür aufzuschließen. Und doch bedurfte es eines Fremden mit geheimnisvollen, betörenden Augen, um sie vollends zu öffnen. Und jetzt hatte ausgerechnet dieser mich verraten.
Es war schwer zu sagen, ob meine Augen offen oder geschlossen waren, denn es gab keinen Unterschied. Ich lag keuchend auf dem Rücken und dachte an den armen alten Tetef in seinem Sarkophag. Nun, er mochte dreitausend Jahre lang vor Grabräubern verschont geblieben sein, aber jetzt konnte er ihnen nicht mehr entrinnen. Sie hatten ihn schließlich doch gefunden, um ihn seiner Unsterblichkeit zu berauben. Aber nein… das stimmte ja auch wieder nicht. Denn durch die Arbeit von Männern wie Jelks wurden die Namen und das Wirken von Pharaonen zu neuem Leben erweckt, damit sie von aller Welt bestaunt werden konnten. Die Lebenden würden sich ihrer erinnern, und das bedeutete wahre Unsterblichkeit. Meine philosophische Stimmung verflog, als ich fühlte, wie das Leben allmählich aus meinem Körper wich. Ich wußte, es würde nicht mehr lange dauern, bis ich tot wäre, und auf eine seltsam ironische Weise tat es mir nur aus einem einzigen Grund leid zu sterben.
Plötzlich war mir das alles ganz klar. Zwei Lieben hatten mich in den letzten paar Tagen ständig beschäftigt; für beide empfand ich echte Gefühle, und doch waren sie beide ganz verschieden. Dr. Kellerman und Achmed Raschid. Ich war mir nie darüber im klaren gewesen, welcher mir mehr bedeutete. Aber jetzt, in diesen letzten Minuten meines Lebens, als ich am Abgrund des Todes stand, wußte ich es. Es gab nichts, das mein Urteil trüben oder meine Meinung beeinflussen konnte. Ich brauchte nur in mein Herz zu schauen, um festzustellen, welchen von beiden zu verlassen mir am meisten leid tat. Und da war mir klar, wie ich mich hätte entscheiden müssen, wenn ich weitergelebt hätte. Während ich um jeden Atemzug rang, malte ich mir aus, daß er vor mir stünde, und mein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Und in den letzten Augenblicken meines Lebens beherrschte er mein ganzes Denken und Fühlen.
Ein Geräusch rüttelte mich aus meiner Benommenheit. Schon halb phantasierend, dachte ich, es sei wohl der Geist des alten Tetef, der sich aus seinem Sarkophag erhob, um sich meiner zu bemächtigen. Doch gleich darauf vernahm ich ein weiteres Geräusch. Und noch
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