Spiel mit dem Feuer
Klippenrand ab und kamen zurück.
Ich glitt hangabwärts und versteckte
mich wieder hinter dem Strauch. Gleich darauf kamen sie im Gänsemarsch an mir
vorbei, so nah, dass ich Amys Gewand rascheln hören konnte. Ich zählte vier
Gestalten, vier Paar Füße.
Ein grausiger Verdacht beschlich mich.
Ich teilte die Zweige und starrte ihren entschwindenden Kehrseiten hinterher.
Drei Männer, eine Frau. Kein Betrunkener.
Sobald das Dunkel sie verschluckt
hatte, huschte ich wieder den Hang hinauf und glitt auf der anderen Seite zu
der Stelle des Klippenrands hinab, wo sie gestanden hatten. Der Fels fiel jäh
ab, und ich verspürte einen kurzen Anfall von Höhenangst, als ich in die
tosende Brandung ein paar hundert Meter tiefer schaute. Sie krachte gegen die
zerklüfteten Felsen, gischtete hoch empor. Niemand konnte in einer solchen
Brandung überleben. Schon gar nicht jemand, der sturzbetrunken war.
Oder halb tot.
Oder vielleicht auch schon ganz tot.
Ich kauerte mich hin und suchte das
Wasser ab. Kein Leichnam. Ein Rascheln ließ mich erschrocken herumfahren,
irgendein Nachtvogel, im Geäst eines —
Eines Brotfruchtbaums. Im Mondlicht
erkannte ich das eigentümliche Schuppenmuster der Früchte.
Ein Brotfruchtbaum. Eine Sprungstelle.
Ein verzweifelter Geist, der
unfreiwillig in den Fluten gelandet war.
Als ich zur Mühle zurückschlich, hörte
ich Wagentüren knallen und einen Motor anspringen. Die Bewohner verschwanden,
jetzt, da ihr grausiges Ritual vollzogen war. Ich wartete, bis es ringsum
wieder still war, und ging dann dorthin, wo die Gruppe vorhin gestanden hatte.
Dort lagen Steine: mächtige flache Brocken von Lavagestein, zu einer Art
Plattform geschichtet.
Ein Heiau, ähnlich dem, den
Tanner mir an der Na-Pali-Küste aus der Luft gezeigt hatte. Aber für welche Art
Ritual?
Nach dem, was ich hier heute Nacht
beobachtet hatte, schienen Menschenopfer keine abwegige Vermutung.
Ich trat an den Altar heran und
berührte einen der Steine. Er war von der Zeit glatt geschliffen. Ich stellte
mir die gewaltige Hitze vor, die ihn geformt hatte, und zog die Hand weg.
Liebe zum Feuer, Angst vor dem Feuer.
Ich kannte beide Extreme gut. War der
Angst-Seite zu nahe gekommen und wie gelähmt gewesen. War der Liebes-Seite zu
nahe gekommen und fast verbrannt.
Ich blieb eine ganze Weile an dem
uralten Altar stehen und lauschte dem Anbranden der Wellen unterhalb der
Sprungstelle. Fühlte die magische Kraft dieses heiligen Orts. Sah mich ganz
bildhaft zwischen den beiden Extremen hin- und hergerissen, die das Feuer im
menschlichen Herzen weckt.
Aus der Zuckermühle roch es rauchig und
modrig. Ich lugte vorsichtig durch den Spalt zwischen Front- und Seitenwand,
bereit, mich sofort zurückzuziehen, falls da noch jemand war. Glutreste glommen
in einem alten Zinkbottich, der als Behelfsfeuerstelle diente, und ein paar
Kisten waren, offenbar als Sitzgelegenheiten, ringsherum arrangiert, aber
ansonsten war der Unterschlupf geräumt.
Hastig geräumt. Müll, der es nicht mehr
bis auf den Haufen draußen geschafft hatte, lag in den Ecken herum; ein paar
Lebensmittel — Trockenobst und Nudeln — lagerten in einem Karton neben dem
Wandspalt. Über dem Bottich hing ein Topf an einer Vorrichtung, die aus einem
Kleiderbügel gebastelt worden war.
Die Bewohner würden nicht mehr
zurückkommen.
Ich ging hinein, nahm meine
Taschenlampe heraus und begann mit der Durchsuchung.
Weinflaschen — eine billige, süße
Sorte. Etliche unbeschriftete Flaschen, die nach Okolehao rochen, dem starken
hausgebrauten Bier, das ich bei einem früheren Hawaii-Besuch gekostet hatte.
Pappbehälter von McDonald’s und KFC. Zeitungen: der Advertiser aus
Honolulu und das hiesige Garden Island. Eine gebrauchte
Injektionsspritze, mitten auf dem Fußboden. Ein linierter Block, beschrieben in
einer kindlichen Schrift, die meisten Passagen mit andersfarbiger Tinte
durchgestrichen. Diesen Block würde ich mitnehmen.
Ich stöberte weiter, entdeckte eine
dünne Bluse, deren flammenartige Farben mich an das Kleid erinnerten, das Sue
Kamuela bei den Dreharbeiten am Morgen angehabt hatte. Ich steckte es zu dem
Schreibblock. Ein gebrauchtes Kondom klemmte in einer Ritze zwischen Wand und
morschen Bodenbrettern. Das brachte mich auf eine Idee, und ich inspizierte
sämtliche Ritzen im Raum — ein zeitaufwendiges Unterfangen, das sich jedoch
lohnte: Ich fand eine Postkarte, adressiert an Ms. Amy Laurentz unter einer
Postfachnummer in Waimea, einen Papierfetzen
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