Spielen: Roman (German Edition)
hoch, um zu sehen, wie weit sie kamen, bevor sie herunterfielen. Wenn sie schnell genug waren, schafften sie drei oder vier Schritte, ehe die Schwerkraft sie erfasste und herunterzog. War man dann zu weit oben, plumpste man auf den Rücken, es war also ein Kunststück, bei dem man sich gut in Acht nehmen musste. Bei meinem ersten Versuch war ich vorsichtig, und da Geir Håkon unmittelbar danach zu übermütig war und mit einem dumpfen Knall in den Straßengraben fiel, so dass ihm die Luft wegblieb und er seine Lunge mit einem bebenden und lauten Jaulen füllte, während er mit den Tränen kämpfte, woraufhin uns die Lust verging, blieb es auch mein letzter.
Geir Håkon rappelte sich mühsam wieder auf und wandte sich ab. Uns den Rücken zukehrend, schnappte er nach Luft, und als er sich umdrehte, sahen alle, dass er geweint hatte, was jedoch niemand kommentierte.
Warum nicht?
Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätten sie etwas gesagt.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Kent Arne.
Im gleichen Moment kam Kleppe auf dem Fahrrad die Straße herunter. Er fuhr ein wenig in Schlangenlinien und trug eine schwarze Jacke und eine schwarze Mütze. Seine geröteten, aufgedunsenen Gesichtszüge hingen und schlenkerten ganz ähnlich wie die beiden B-Max-Tüten, die links und rechts am Lenker hingen. Er war Håvards Vater, ein Junge, der in dem Haus wohnte, das von unserem am weitesten entfernt lag, und schon siebzehn war, er war jemand, den wir bewunderten, mit dem wir jedoch ganz selten ein Wort wechselten. Es ging das Gerücht, sein Vater sei Alkoholiker. Als er nun in die Straße bog, an der wir standen, sah ich deshalb meine Chance gekommen. Ich lief einige Meter neben ihm her und tat dabei so, als lugte ich in die Tüten am Lenker.
»Da sind Bierflaschen in den Tüten!«, rief ich den anderen zu und blieb stehen.
Kleppe würdigte mich keines Blickes. Aber die anderen lachten.
Am nächsten Tag saßen wir in Geirs Zimmer und schrieben einen Liebesbrief an Anne Lisbet. Prestbakmos Haus hatte den gleichen Grundriss wie unseres, es umfasste die gleichen Zimmer, die den gleichen Himmelsrichtungen zugewandt lagen, war aber trotzdem ganz anders, denn bei ihnen war die Funktion der Möbel entscheidend, die Stühle eigneten sich in erster Linie gut zum Sitzen, ob sie schön aussahen, war nicht so wichtig, und diese von jeglichem Staub befreite, fast klinische Sauberkeit, die unsere Zimmer manchmal prägte, fehlte bei ihnen, wo Tische und Böden in all dem ertranken, womit sie sich gerade beschäftigten. Ihr Leben war sozusagen in das Haus integriert. Das war es bei uns vermutlich auch, nur dass wir ganz anders lebten. Für Geirs Vater war es völlig undenkbar, als Einziger seine ganzen Werkzeuge benutzen zu dürfen, im Gegenteil, ihm lag es sehr am Herzen, Geir und Gro möglichst viel an dem teilhaben zu lassen, was er gerade machte. Sie hatten in der unteren Etage eine Werkbank, auf der geschnitzt und gehobelt, geleimt und poliert wurde, und wenn wir beispielsweise Lust bekamen, einen Karren zu bauen oder eine Seifenkiste, wie wir das Gefährt nannten, wandten wir uns an ihn. Ihr Garten war nicht schön und symmetrisch, wie es unserer nach all der Zeit war, die Vater ihm gewidmet hatte, sondern eher willkürlich entstanden, von einem Nützlichkeitsprinzip ausgehend, in dem zum Beispiel der Komposthaufen trotz seines wenig ansprechenden Aussehens viel Platz einnahm, was auch für die schmucklosen, fast unkrautähnlichen Kartoffelpflanzen galt, die in einem großen Feld hinter dem Haus wuchsen, wo wir einen schnurgeraden Rasen und runde Beete mit Rhododendronbüschen angelegt hatten.
Geirs Zimmer lag an der gleichen Stelle wie meins, seine Schwester Gro hatte ihr Zimmer dort, wo bei uns Yngves lag, und ihre Eltern schliefen in dem Raum dazwischen genau wie bei uns. Geir bewegte sich frei zwischen allen Zimmern, lief nach Belieben die Treppe hinauf und hinunter, und wenn er Lust auf ein Brot bekam, holte er Wurst oder Käse aus dem Kühlschrank und machte sich eins. Oft saßen wir im Wohnzimmer, hörten eine Platte mit den lustigen Liedern des Duos Knutsen & Ludvigsen und lachten über sie oder über ihn, denn er kannte nicht nur alle Texte auswendig, sondern konnte sie auch originalgetreu darbieten. Er konnte kein Fußball spielen, war in allen Ballsportarten schlecht, irgendetwas stimmte mit seiner Koordinationsfähigkeit nicht, aber Fußball interessierte ihn auch nicht sonderlich, zumindest brannte er nicht so darauf,
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