Spielen: Roman (German Edition)
unweigerlich das Grauen.
Tempo und Wesensart gehörten zusammen. Mutter fuhr vorsichtig, nahm Rücksicht, regte sich niemals darüber auf, wenn das Auto vor ihr langsam fuhr, sondern blieb geduldig dahinter. So war sie auch daheim. Sie wurde niemals wütend, hatte immer Zeit, einem zu helfen, blieb gelassen, wenn etwas zu Bruch ging, denn so etwas kam eben vor, unterhielt sich gerne mit uns, interessierte sich für alles, was wir sagten, servierte uns häufig Dinge, die nicht unbedingt nötig gewesen wären, zum Beispiel Waffeln, Rosinenbrötchen, Kakao oder frisch gebackenes Brot, wohingegen Vater versuchte, alles aus unserem Leben herauszufiltern, was keine direkte Relevanz für die jeweilige Situation hatte: Wir aßen, weil wir essen mussten, und die Zeit, die wir mit den Mahlzeiten verbrachten, hatte keinen Wert an sich; wenn wir fernsahen, dann sahen wir fern und sollten weder reden noch etwas anderes nebenher tun; wenn wir in den Garten gingen, mussten wir den Steinplatten folgen, zu diesem Zweck waren sie verlegt worden, während man auf dem Rasen, der so groß und einladend war, weder gehen oder laufen noch liegen durfte. Dass Yngve oder ich zu Hause niemals einen Kindergeburtstag feierten, war Teil der gleichen Logik, es war unnötig, ein Kuchen nach dem Mittagessen im Kreis der Familie reichte völlig. Dass es uns verboten war, Freunde ins Haus mitzunehmen, gehörte auch dazu, denn warum sollten wir uns im Haus aufhalten, wo wir nur Unordnung schufen, wenn wir draußen spielen konnten? Dass unsere Freunde sonst daheim hätten erzählen können, wie es bei uns aussah, spielte sicher auch eine Rolle, und eigentlich entsprach auch das der gleichen Logik. Im Grunde erklärte sie alles. Wir durften Vaters Werkzeuge nicht anrühren, weder Hammer, Schraubenzieher, Zange noch Säge, weder Schneeschaufel noch Besen, genauso wenig war es uns erlaubt, uns in der Küche etwas zu essen zu machen, wir durften uns nicht einmal selbst eine Scheibe Brot abschneiden oder den Fernseher oder das Radio einschalten. Hätte man uns diese Dinge erlaubt, wäre irgendwo im Haus ständig etwas aufgewirbelt worden, doch so, wie die Dinge nun geregelt waren, herrschte die gewünschte Ruhe, und wenn etwas von ihm oder Mutter benutzt wurde, geschah dies in geordneten, zielgerichteten Bahnen. Für die Autofahrten galt das Gleiche, er wollte möglichst schnell sein Ziel er reichen, mit möglichst wenigen Verzögerungen von einem Punkt zum anderen gelangen. In diesem Fall von Tromøya nach Kristiansand, der Heimatstadt dieses dreißigjährigen Gesamtschullehrers.
Nie vergeht die Zeit so schnell wie in der Kindheit, nie ist eine Stunde so kurz wie in ihr. Alles steht einem offen, und man läuft mal hierhin und mal dorthin, tut dies und tut das, und dann ist die Sonne untergegangen, und man stellt fest, dass man im abnehmenden Licht steht und die Zeit plötzlich wie ein heruntergelassener Schlagbaum vor einem liegt: Oh nein, ist es wirklich schon neun ? Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr. Verschwindet das Offene, verschwinden die Möglichkeiten, mal hierhin, mal dorthin zu laufen, sei es nun in Gedanken oder in der Wirklichkeit, wird jede Minute zu einem Schlagbaum und die Zeit zu einer Zelle, in der man gefangen ist. Gibt es für ein Kind etwas Schlimmeres, als eine geschlagene Stunde in einem Auto zu sitzen, noch dazu auf einer Strecke, die es in- und auswendig kennt, und unterwegs zu etwas, worauf es sich freut? In einem Coupé, in dem der Zigarettenrauch zweier rauchender Eltern wabert, und mit einem Vater, der einen jedes Mal gereizt anfaucht, wenn man sich anders hinsetzt und dabei versehentlich mit dem Knie an seinen Sitz stößt?
Oh, wie langsam diese Zeit verging. Oh, wie spät die markanten Stellen der Strecke auftauchten. Den steilen Anstieg aus dem Zentrum von Arendal ging es hinauf, durch die Wohnviertel zur Brücke nach Hisøy, die ganze Landseite der Insel entlang, vorbei am Sanatorium für Nervenschwache Kokkeplassen, wo Mutter arbeitete, den Hang hinunter und an den Geschäften vorbei, über die Brücke über den Fluss Nidelva und dann durch die schier endlosen flachen Streckenabschnitte mit Häusern und Wald und Feldern in Richtung Nedenes. Wir waren noch nicht einmal in Fevik! Und von dort aus war es noch weit bis Grimstad, ganz zu schweigen davon, wie weit es von Grimstad nach Lillesand war, und von Lillesand nach Timenes, und von
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