Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
war es ja, sie fühlte . Sie hatte Empfindungen, für die ihr die Worte fehlten – so mussten wohl normale Menschen durchs Leben kommen: Sie meisterten unklare Situationendurch Improvisation, versuchten Dingen zu etikettieren, für die es keine Etiketten gab.
Rachel dachte: Okay, Gott, heute hab ich ja viel über dich zu hören gekriegt. Das hier wird das einzige Mal sein, dass ich mit dir spreche, also hör besser gut zu. Lieber Gott, bitte schick mir ein Zeichen, dass dies die Art und Weise ist, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. Bitte lieber Gott, schick mir ein Zeichen, dass dies die Art ist, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein. Bitte lieber Gott, lass mich nur einmal in meinem Leben so sein wie die anderen – nur dieses eine Mal, und ich werde dich nie wieder belästigen. Vielleicht fange ich dann sogar an, an dich zu glauben. Aber wenn du das tun willst, dann tue es jetzt. Später geht es nicht mehr. Es muss jetzt sein, während ich hier im Lagerraum einer Cocktailbar in der Nähe eines Flughafens in der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts in der Mitte des nordamerikanischen Kontinents stehe. Es muss jetzt sein, während ich diese Beine umschlungen halte, während ich spüre, wie sich die Muskeln in ihnen bewegen, während ich ihre Wärme spüre. Ich berühre einen anderen Menschen und möchte weder wegrennen noch schreien – ja, ich will sogar das genaue Gegenteil davon. Also, jetzt bist du dran, Gott – das ist alles, was ich immer gewollt habe und worum ich dich je bitten werde.
Und Gott gab Rachel, was sie von ihm haben wollte.
Rachel ließ den Blick durch die vom Kerzenlicht beleuchtete Lounge schweifen. Niemand sagte etwas, daher erklärte Rachel: »Wenn es bei uns im Haus zu still ist, spiele ich mit meinen Eltern manchmal Scrabble, aber wir nehmen ein paar Vokale raus, um das Spiel interessanter zu machen. Hast du ein Scrabblespiel hier, Rick?«
»Nö. Darf ich dir stattdessen noch ein neues Ginger Ale holen?«
»Danke, gern, Rick.«
In der Lounge wurde es schwül, und das gefiel Rachel nicht – die Schwüle fühlte sich an, als würden Fremde sie berühren. Ein Teil von ihr wollte sich an ihren Wohlfühlort zurückziehen, aber nach den jüngsten Ereignissen hatte dieser Ort nicht mehr die Anziehungskraftwie früher. Rachel dachte sich, nun müsste sie schwanger sein – es konnte gar nicht anders sein, denn sie hatte alle Regeln fürs Schwangerwerden befolgt. Und außerdem können die Leute Babys nicht an ihre Wohlfühlorte mitnehmen, weil man sich um Babys ständig kümmern muss. Und seltsamerweise hätte der Rückzug an den Wohlfühlort auch einen Rückschritt in der Zeit bedeutete, der nicht gut war. Rachel war in den letzten paar Stunden schon zu weit vorangegekommen – sie hatte sich das Recht erworben, Teil der Welt zu sein. Außerdem hatte Gott ihr gegeben, was sie gewollt hatte. Vielleicht war Gott der Wohlfühlort, und sie hatte Ihn ihr Leben lang falsch etikettiert.
Der brandblasige Bertis sah sie an und meinte: »Und woran glauben Sie , Rachel?«
»Ich? Ich glaube an Gott.«
Bertis wirkte überrascht. Alle wirkten überrascht. »Tun Sie das?«
»Oh ja.«
Rick sagte: »Aber ich dachte, Gott wäre … ich meine … du bist nicht gerade der Typ für Gott.«
»Nein. Du hängst nur an dem Autismusspektrumsstörungs-Klischee. Ich halte Gott für real.«
Luke fragte sie, ob sie schon immer an Gott geglaubt habe.
»Nein. Das ist eine neue Überzeugung.«
»Oh. Aber vor einer Stunde hast du uns noch gefragt, warum normale Menschen …«
Rachel sah, worauf Luke hinauswollte. »Aber Menschen ändern sich, Luke.«
»Na schön, aber glaubst du denn dann gleichzeitig auch an die Evolutionstheorie?«
»Natürlich.«
»Schließt das eine nicht das andere aus?«, fragte Karen.
»Überhaupt nicht«, erwiderte Rachel. »Gott hat die Welt erschaffen, und er hat sich dazu aller Dinge bedient, die dafür nötig waren.Deswegen gehören Fossilien, Dinosaurier und Milliarden von Jahren dazu. Wenn das alles nötig war, um unsere Welt zu erschaffen, wo liegt dann das Problem? Die Welt ist hier. Wir leben darin.«
»Du hast also keine Schwierigkeit mit den Zeitrahmen – der ganzen vielen Zeit?«, fragte Luke.
»Luke, Menschen waren wahrscheinlich nie dazu geschaffen, sich über die Zeit Gedanken zu machen. Wenn sie das zu intensiv tun, scheint das immer negative Auswirkungen auf sie zu haben. Die Ewigkeit ist das schlimmste Konzept überhaupt. Was hat Gott sich
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