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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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bringen soll. Nimm eins weg oder füge eins hinzu, und nichts bewegt sich?«
    »Mikado. Wir nähern uns dem Thema des heutigen Examens.«
    »Es ist Viertel vor zwei.«
    »Morgen hast du doch die erste Stunde frei?«
    Ada seufzte.
    »Go ahead.«
    Mit etwas Verspätung begann Ada, sich wegen Alevs Bemerkungen über Kälte, Härte und Schnelligkeit zu freuen. Eine Eigenschaft war etwas, auf das man mit dem Finger zeigen konnte, wenn man sich selber meinte. Du willst wissen, wie sie ist? Sie ist hart, kalt und schnell. Durch den Erwerb von Eigenschaften gelang noch dem Dümmsten der schwierige Akt der Selbsterschaffung. Die Methode war verlogen und reizvoll, wie alle Wege des geringsten Widerstands. Einmal hatte Alev sich im Deutschunterricht gemeldet und auf sie gezeigt: Meine Freundin Ada da hinten verfügt über erheblich weniger Eigenschaften als der Mann ohne Eigenschaften, der angeblich keine hat. Wie kann das sein? - Sogleich hatte Ada gespürt, wie die Eifersucht der Prinzessinnen sie von allen Seiten umsprudelte.
    Selbst Eigenschaftslosigkeit war eine Eigenschaft, um die man beneidet wurde. Härte, Kälte und Schnelligkeit waren gleich drei.
    »Erklär mir das Dilemma«, forderte Alev.
    Ada glaubte, er müsse ihre Gedankengänge durchs Telefon gehört haben, und brauchte eine Weile, bis sie verstand, worauf er sich bezog. Schwungvoll wälzte sie sich auf die andere Seite, als könnte sie auf diese Weise beim Denken die Gehirnhälften wechseln.
    »Zwei Angeklagte werden einzeln dem Gericht vorgeführt. Jedem von ihnen schlägt der Richter einen Deal vor: Wenn du gestehst und deinen Kumpel verpfeifst, bleibst du straffrei, und der andere kriegt fünf Jahre Knast. Schweigt ihr beide, reichen die Indizien für jeweils zwei Jahre. Gesteht ihr beide, bekommt jeder vier Jahre. Sie haben keine Möglichkeit, sich abzusprechen. Richtig?«
    »Sehr gut. Was wird passieren?«
    »Sie berechnen beide die Lösung mit dem höchstmöglichen Vorteil bei möglichst geringem Risiko. Das heißt, sie hauen sich gegenseitig in die Pfanne. Jeder bekommt vier Jahre.«
    »Und was hat der Richter gewusst?«
    »Dass bei einem Nullsummenspiel mit zwei Personen keiner von beiden kooperiert, obwohl sie gemeinsam das beste Ergebnis erreichen könnten. Nämlich nur zwei Jahre Knast.«
    »Ich sagte es bereits: Ich liebe deine Schnelligkeit.«
    Ada rollte sich auf den Rücken, wechselte das Telefon ans andere Ohr und sog kalte Luft in die Lungen. Sie schlief auch im Winter bei offenem Fenster.
    »Was wäre nun«, fuhr Alev fort, »wenn die Gefangenen wüssten, dass sie in Kürze noch einmal gemeinsam vor Gericht stehen werden, oder wenn sie in Zukunft weiter zusammenarbeiten wollten?«
    »Sie würden die Zukunft mit einkalkulieren, die Möglichkeit von Rache und den späteren Schaden durch enttäuschtes Vertrauen.«
    »Das heißt auf gut Mathedeutsch: Bei iterativen Entscheidungsserien ist mit Kooperation zu rechnen, während im Einzelfall Verrat begangen wird. Danke, das war's.«
    Jeder kennt den Augenblick, wenn der Zug, in dem er sitzt, in einen Bahnhof einrollt. Man spürt das Verlangsamen der Geschwindigkeit, neigt den Oberkörper zur pflichtschuldigen Verbeugung vor dem Gott der Masseträgheit, bohrt sich das Kreischen der Bremsen aus den Ohren und sieht schließlich die Bahnhofshalle vor dem Fenster, wartende Menschen, Uhren, gestapeltes Gepäck. Wenn der Zug zum Stehen gekommen ist, fällt dem Reisenden ein, dass er ja aussteigen könnte. Lautsprecher nennen Umsteigeoptionen und die Namen möglicher Reiseziele. Es bedürfte nur weniger Schritte, und schon stünde er auf dem Bahnsteig und damit am Tor einer schlagartig veränderten Zukunft. Solche Umschlagplätze des Schicksals spürt der Mensch in allen Fasern. Er hat gelernt, sitzen zu bleiben, gleichgültig, was die Lautsprecher zischen. Springt wirklich einmal jemand auf und verlässt überraschend das Abteil, lächeln die Mitreisenden und schütteln die Köpfe. Ihre Phantasie folgt den Pfaden des Aussteigers, sie selbst bleiben zurück. Alles ist wie immer, sobald der Zug sich in Bewegung setzt; man lehnt sich entspannt zurück und betrachtet die Landschaft, die ordnungsgemäß an den Fenstern vorüberzieht.
    Ada merkte es deutlich, das Abbremsen des Zugs. In diesem Moment hätte sie das Gespräch beenden können, alles klar, wunderbar, gute Nacht, und wäre von da an mit einer anderen Bahn weitergereist, möglicherweise in eine völlig andere Richtung. Aber sie blieb sitzen. Sah einen

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