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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sternförmigen Lochs. Sie stützte die Unterarme auf den Rand der Eisdecke wie auf eine Fensterbank und ließ den Körper reglos im Wasser hängen. Ada sah das Wesen im Profil, bemerkte, dass es die Augen geöffnet und ins Leere gerichtet hielt, und glaubte ein Lächeln wahrzunehmen -die Mundwinkel waren eindeutig nach oben gebogen. Sie hatte eine Eisfee beim Nachtbad überrascht.
    Als die Zeitspanne abgelaufen war, die Verstand und Gefühle brauchen, um in Momenten des Schocks zu einer Einigung zu gelangen, erkannte sie die schnurgerade Linie von Fußspuren auf dem verschneiten Eis. Die gezackten Kanten des Lochs stammten von mehreren Versuchen, sich aufgestützt aus dem Wasser zu hieven, wobei die Eisdecke jedes Mal weiter eingebrochen war. Mit wenigen Schritten gelangte Ada ans Ufer und rief die Sylphe an. Nicht der kleinste Widerschein einer Regung zeigte sich auf Frau Smuteks weißem, dämonisch lächelndem Gesicht.
    Während Ada Jacke und Pullover auszog und die Schnürsenkel der Laufschuhe löste, überlegte sie, ob Gott oder der Teufel sie zwangen, bei Minusgraden ins Eiswasser zu steigen. Außer Angst und Aufregung und einem Herzen, das sich hart gegen den Brustkorb meldete, verspürte Ada eine gewisse Begeisterung, die nur der Teufel hervorgebracht haben konnte. Die Lage kürte sie schnell und zweifelsfrei zum Despoten im Ich-Staat. Ihre Befehle gab sie scharf und unmissverständlich, Schuhe aus, Hose anlassen, langsam atmen, und stellte mit Befriedigung fest, dass der Körper gleich einem gedrillten Soldaten ohne Zögern der Gefahr entgegenlief. Gott hätte vorgeschlagen, ein flinkes Beinpaar zu nutzen, um zur Herberge zurückzulaufen und Hilfe zu holen, und Gott wäre wie immer zu spät gekommen. Ada warf sich auf den Boden, wälzte wie ein junger Hund den erhitzten Leib durch den Schnee, um das bevorstehende physische Entsetzen zu mildern, sprang auf die Füße, hüpfte einige Male auf der Stelle und rannte los, das abschüssige Ufer hinunter und auf das Eis.
    Schon nach zwei Metern begann es unter den Füßen zu brechen. Frau Smutek hatte den Teich von der anderen Seite betreten, wog weniger und war viel weiter gekommen. Noch ein paar Schritte trug die Geschwindigkeit Ada über splitternden Untergrund hinweg, dann brach sie ein. Das Wasser empfing sie mit elektrischen Schlägen von allen Seiten, unmöglich zu entscheiden, ob es kochend heiß war oder kalt, und diese Ungewissheit war leichter zu ertragen als der Kälteschock, den sie erwartet hatte. Noch spürte sie Grund unter den Füßen, stieß sich ab und warf sich einige Male mit dem Oberkörper auf die krachende und singende Fläche, die sofort nachgab und in dünnen Schollen auseinander trieb. Als das Wasser zu tief wurde, begannen die Beine von selbst mit hektischen kleinen Schwimmbewegungen, während die Ellenbogen vorausstießen und einen schwarzen Streifen durch die helle Fläche bahnten. Das gezackte Loch durchquerte sie mit den schnellen Zuckungen eines Nichtschwimmers, begleitet vom empörten Schaukeln und Klirren der Eisstücke um sie herum.
    In der Sekunde, bevor sie Frau Smutek mit ausgestreckter Hand berühren konnte, fragte sie sich zum ersten Mal, wie sie einen solchen ausgeschalteten Leib an Land bringen sollte. Seitdem der erste Kontakt mit dem Wasser die Wut zum Aufwallen gebracht hatte, sog die Kälte unablässig Kraft aus Armen und Beinen, verwirrte die Sinne und fasste mit sanften Fingern direkt ins Hirn. Entspann dich doch, leg dich hin, ich trag dich, es könnte so schön sein. Einen Moment später hatte Ada die Eisfee erreicht, hob einen Arm aus dem Wasser, schlug ihr auf die Schulter und spürte den kleinen, schroffen Widerstand gefrorenen Stoffs und darunter ein Körperteil, das kalt und hart war wie Stein. Mit einer langsamen, gutmütigen Bewegung drehte Frau Smutek den Kopf, zeigte ein selig erstarrtes Gesicht und wandte die Augen unter halb geschlossenen Lidern blicklos nach rechts und links.
    »Nie wiedzialam, ze to tak latwo«, sagte sie, und ihre Stimme klang auf geradezu lächerliche Weise normal.
    Ada verstand nicht, wusste im Voraus, dass die andere, im Halbschlaf sprechend, sich nie wieder an eins dieser Worte erinnern würde, und gab den Satz verloren. Sie packte den schmalen Oberkörper grob mit beiden Händen und zog ihn von der Eisdecke ins Wasser. Frau Smutek ging unter und kam sofort lächelnd wieder an die Luft, das schwarze Haar von Nässe glatt an den Schädel gekämmt.
    »Schwimm«, brüllte Ada ihr ins

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