Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Ohr, »schwimm!«
    Und auch Frau Smutek gehorchte wie ein guter Soldat. Sie schwamm folgsam, mit zackigen, automatischen Bewegungen, Kopf an Kopf mit Ada, als wären sie gemeinsam an dieselbe Nervenbahn angeschlossen. Ada redete weiter, um bei Verstand zu bleiben, sprach zu ihnen beiden wie zu einer Person, brav machst du das, gutes Mädchen, schwimm einfach, verdammt noch mal, schwimm.
    Aus Angst, den Faden zu zerreißen, der sie miteinander verband, wagte sie nicht, mit den Füßen nach Grund zu tasten, sondern schwamm weiter, bis der Bauch über Steine schrammte und die Hände den Schopf des Uferbewuchses zu fassen bekamen. Sie kam an Land, Frau Smutek blieb liegen, bleich im Wasser wie ein totes Reptil, und Ada bemerkte, dass sie in dünnem Hemd, Stoffhose und ohne Schuhe in den Wald gelaufen sein musste. Nirgendwo am Rand war ein Kleidungsstück zu sehen, das nicht Ada gehörte.
    Mit einer Hand in den schwarzen, triefenden Haaren, die andere unter eine Achselhöhle gekrallt, zog Ada Frau Smutek an Land. Die Verbindung war unterbrochen; Schwimmen hatte funktioniert, Aufstehen funktionierte nicht. Ada ging in die Knie und lud sich die eiskalte Fee, die plötzlich schwer wie fünf Menschen war, auf den Rücken. Abgeknickt hing ihr der fremde Kopf über die Schulter, das lange Haar reichte bis zu den Oberschenkeln und klebte sich an die Haut wie Wasserpflanzen bei Ebbe an die Uferfelsen. Ein paar Schritte konnte Ada sie schleppen, stapfte starrsinnig in der eigenen Spur voran, und von der Anstrengung wurde ihr warm. Als es nicht mehr ging, standen sie in der Mitte der Lichtung, die eine halb nackt, den Brustkorb der anderen umklammernd, schwankend und flüsternd, Stirn an Stirn wie ein irrsinniges Liebespaar. Ada verlagerte das Gewicht, um den rechten Arm freizubekommen, holte aus und fing an, Frau Smutek zu schlagen, immer ins Gesicht, einmal, viele Male, abwechselnd mit Handfläche und -rücken, und mit jedem Schlag ging es besser, bis Frau Smutek ein Wimmern von sich gab und versuchte, sich wegzudrehen.
    »Lauf«, brüllte Ada, »lauf!«
    Und sie lief. Auf Beinen, die sich kaum kontrollieren ließen, in stürzenden Schritten wie eine von den Seilen geschnittene Marionette, schwer mit dem Arm über Adas Schultern lastend, immer wieder einknickend und weitergeschleift. So kamen sie durch den Graben, so kamen sie auf den Weg, so kamen sie den Weg hinunter. Mal ging es besser, mal schlechter, dann brüllte Ada sie an, schlug und trat mit nackten Füßen und prügelte sie wie ein halb totes Tier die nächsten Meter voran.
    Die Herberge geriet in Sicht, warm leuchtete die gläserne Eingangstür. Mit einem letzten Aufraffen warf Ada sich selbst und die andere in Richtung des Lichts, die Tür schwang auf, Helligkeit versengte die Augen, eine Phalanx von Schülerschu-hen geriet in den Weg. Frau Smutek rumpelte zu Boden. Gerüche nach Menschen. Jacken am Haken. Für einen Moment sehnte Ada sich zurück in den Wald.
    Dann spannte sie sich zu einer letzten Kraftanstrengung und schrie, und weil ihr kein Wort mehr einfiel, schrie sie wie vorhin: Lauf!, mit langem, heulendem Laut in der Mitte, lauf!, bis die Treppe am Ende der Eingangshalle zu dröhnen begann und Smutek von unten nach oben ins Blickfeld geriet, erst Beine, dann Hüften und Oberkörper. Hinter ihm Höfi, mit blanken Knopfaugen vor Grauen.
    Frau Smutek verschwand, in die Luft gehoben, und Ada, längst in den Knien eingebrochen, rutschte gänzlich zu Boden und blieb minutenlang auf der nassen Fußmatte liegen. Befehlsverweigerung. In Armen und Beinen war nur noch Gelee ohne Knochen. Höfi, der sie nicht aufheben konnte, kauerte neben ihr, fuhr ihr mit fliegenden Fingern übers Gesicht, und als etwas Heißes ihr auf die Wange tropfte, begriff sie, dass er weinte, zusammengekrümmt wie über einem verstorbenen Kind, beweinte ein fernes Unglück oder seine eigene Schwäche, und haspelte Dinge, die sie nicht verstand. Als Smutek wieder auftauchte, war Höfi fort, verschwunden wie eine Erscheinung, und Ada schwebte hoch über dem Boden und blickte direkt auf Smuteks Kinn, auf diese fleischige, in der Mitte geteilte Zwillingspflaume.
    »Danke«, flüsterte er, während er sie auf den Armen durchs Haus trug, »ich danke dir.«
    »Ich habe nicht Ihnen geholfen«, sagte Ada, »sondern Ihrer Frau.«
    Die Stimme klang ganz wie gewohnt, Ada erkannte sie ohne weiteres als die eigene, ohne zu wissen, wie und womit sie in ihrem Körper erzeugt wurde. Smutek blieb stehen und sah

Weitere Kostenlose Bücher