Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
Akten nach. Es muss ganze Stapel zu diesem Fall geben! Wir wurden ständig zum VPKA bestellt, damit man uns dort das immer Gleiche fragen konnte.«
»Wir haben Ihren Sohn gestern entdeckt. Heute wurde er obduziert und wir konnten seine Identität feststellen.«
»Damit wollen Sie mir zu verstehen geben, Sie hätten noch keine Zeit gehabt, all die Ordner zu studieren? Da werden Sie wohl eine Sonderschicht einlegen müssen«, kommentierte der Vater hämisch.
»Herr Keiser, hier geht es nicht mehr um einen Vermisstenfall oder um Republikflucht. Wir ermitteln jetzt in einem Mordfall.«
»Na, da werden Sie den Täter nach 20 Jahren ja ganz leicht finden können«, schoss die Mutter einen Pfeil in Richtung Nachtigall ab.
»Ein bisschen Unterstützung wäre dabei sicher hilfreich«, parierte der Hauptkommissar ungerührt.
Die Sonne brannte inzwischen auf die seltsame Vierergruppe herunter und täuschte sommerliche Leichtigkeit vor. Doch leicht war hier gar nichts.
Gespräche mit hinterbliebenen Müttern und Vätern waren immer schwierig, aber diese Eltern hatten besondere Probleme damit, die Todesnachricht zu verarbeiten. Jahrelang hüteten sie eine Geschichte in ihrem Denken, gaben ihrem Zorn auf den undankbaren Jungen neue Nahrung, fühlten sich von ihm ausgenutzt, missbraucht und im Stich gelassen – hatten in der Anfangszeit bis zur Wende sicher unter Repressionen zu leiden gehabt.
Und nun kamen zwei Beamte und erzählten eine neue Geschichte.
Vielleicht, dachte Nachtigall bedrückt, war dieser Zorn Ausdruck eines schlechten Gewissens, weil man den Sohn so lange fälschlich verabscheut hatte.
Von einer Sekunde auf die andere waren 20 Jahre Gefühle ungültig.
»Roland musste sein Knie operieren lassen. Das Gelenk wurde ausgetauscht«, begann Vincent Keiser schleppend. »Er hatte Angst vor der OP.« Ein nachsichtiges Lächeln schlich um seine dürren Lippen und war sofort wieder verschwunden.
»Er war ein Weichei«, stellte seine Frau unerbittlich klar. »Ein Jammerlappen!«
Schwer lag Nachtigalls Hand auf der Schulter des Vaters, der Anstalten machte, seiner Frau quer über den Tisch an die Kehle zu springen.
»Renate! Wie kannst du nur so etwas Gemeines sagen? Er war ein junger Mann, ohne Erfahrungen mit Operationen. Da ist es doch ganz normal, dass man ein mulmiges Gefühl hat. Schon die Sache mit dem Rheuma war schlimm genug. Roland hatte heftige Schmerzen, immer wieder mal wurde ein Gelenk dick, heiß. Er hatte unerklärliches Fieber. Und am Ende stand fest, es war Rheuma. Natürlich begann man sofort mit der Therapie – aber für Roland war das eine harte Zeit. Aktiv Fußball spielen war damit vom Tisch. Er konnte bestenfalls noch als Betreuer arbeiten. Eine ganze Weile war er sehr deprimiert.«
»Klar! Weil der Herr Vater ja auch immer mit gejammert hat. ›Ach, was soll denn nun werden?‹ oder ›Tut es sehr weh, mein Kleiner?‹ Statt ganz klar zu sagen, so ist es nun, also machen wir das Beste aus der Sache. Du hast ihn in seiner persönlichen Inszenierung des Dramas immer noch unterstützt!«
»Roland wollte Stürmer werden. Das war sein größter Traum. Er hat hart trainiert, hat raffiniert gespielt, sein Ballgefühl war unglaublich. Ein bisschen wie bei Thomas Müller. Kennen Sie doch, den Nationalspieler? Genau so hat mein Roland den Ball kontrolliert. Es war eine Freude, ihm dabei zuzusehen. Diese Leichtigkeit. Sensationell. Als er schon meinte, nun sei er auf dem direkten Weg zum Ziel, kam die Krankheit. Tatsache ist, dass er sich kaum was hat anmerken lassen. Und dann der Sturz. Mit dem Rad in die Straßenbahnschienen und direkt aufs Knie. Ein Autofahrer war auch noch verwickelt, aber den traf wohl keine Schuld. Natürlich trieb ihn die Sorge um, er könne nun auch den Betreuer vergessen. Ist doch klar. Ein Physiotherapeut meinte aber, er würde das Knie schon wieder hinkriegen. Von da an war der Junge zuversichtlicher.«
»Die OP war am …?«, schaltete sich Skorubski ein.
»5. Mai 1989. Drei Wochen später war er weg«, schluchzte Vincent Keiser rau, was ihm ein erneutes verächtliches Schnaufen seiner Frau eintrug.
»Sie haben sein Verschwinden sofort angezeigt?«
»Nein. Sein Untermieter, Bernhard Schneider, informierte uns nach zwei Tagen. Er stand unerwartet bei uns in der Tür, um sich zu erkundigen, ob Roland vielleicht wieder in der Klinik sei. In diesem Fall würde er nämlich nicht für ihn mit einkaufen.«
»Untermieter?« Nachtigall stutzte. »Er hatte eine
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