Spione kuesst man nicht
Geschnatter (auf Farsi), als wir die große Halle passierten. Mom hängte sich bei mir ein und sagte: »Ich hab mich gefragt, ob du heute Abend was unternehmen möchtest.«
Okay, ich weiß, mir stehen eine Menge Sprachen zur Verfügung, aber ich verstand beim besten Willen nicht, was meineMutter von mir wollte. Es war komisch, nicht zum Totlachen komisch, aber doch irgendwie unheimlich.
»Oder nicht«, sagte sie, als sie meine verdutzte Miene sah. »Ich dachte, vielleicht hättest du Lust, mit mir in die Stadt zu gehen.«
Ja, ich hatte Lust, in die Stadt zu gehen – allerdings nicht mit ihr. Ich hatte mir sogar schon die Lippen geschminkt, und Klamotten lagen im Tunnel versteckt. Josh hatte so aufgeregt geklungen, als er fragte: »Du kommst doch am Samstag? Oder musst du mit deinen Eltern was unternehmen?«
Letzteres hatte ich verneint, und jetzt wollte meine Mutter aber genau das von mir. Ich sah ihr in die Augen, ihre wunderschönen Augen, die Schreckliches und Wunderbares und alles Mögliche dazwischen gesehen hatten, und dann sagte ich: »Ich bin ziemlich müde.« Was genau genommen keine Lüge war.
»Dann was Ruhiges«, schlug sie mit der Beharrlichkeit einer Top-Spionin vor. »Vielleicht ins Kino?«
»Ich –« Ich bin ein schrecklicher Mensch. »Ich … weißt du, ich muss …«
Dann hörte ich eine Stimme hinter mir. »Cammie hat versprochen, mir bei der Arbeit für organische Chemie zu helfen.«
Ich drehte mich um und sah Macey auf uns zuschlendern. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ihre Stimme vollkommen normal. Macey war akademisch vielleicht nicht ganz auf dem neuesten Stand, aber wenn es ums Täuschen beim Spionieren ging, war sie ein Naturtalent. (Was bestimmt auch ins Spiel kam, als sie – wie Tina schwört – im Mittelmeer die Jacht eines Scheichs entführte.)
Mom sah erst Macey an und dann mich. »Oh«, sagte sie, aber ihr Lächeln wirkte ein bisschen gekünstelt und ihre Stimmeklang ein wenig traurig, als sie meine Arme streichelte und leise sagte: »Okay, ich wollte nur nicht, dass du heute Abend allein bist.«
Allein? Wann bin ich jemals allein? Ich lebe in einem Schloss mit ungefähr hundert Mädchen, und höchstens, wenn ich mal in meinem geheimen Zimmer bin oder auf einer Fensterbank sitze oder mich auf dem Dachboden der S+V-Scheune aufhalte oder – okay, okay, manchmal bin ich allein.
Macey entfernte sich leise, und Mom blickte ihr hinterher. »Ich weiß, es ist nicht leicht gewesen … mit ihr. Aber ich bin stolz auf dich, meine Kleine.« Sie umarmte mich wieder. Es war eine Umarmung, die anhielt, so, als ob es lange keine mehr geben würde, und ich wünschte mir, dass ich mich nicht so schnell losreißen müsste. Oder überhaupt nicht mehr. Aber ich riss mich los. Josh wartete doch auf mich.
»Essen?«, fragte ich. »Morgen Abend?«
»Sicher, meine Kleine«, sagte Mom und steckte eine Haarsträhne hinter meinem Ohr fest. Ich drehte mich um und ging den Korridor entlang. Zum Glück waren meine Schritte lauter als meine Gedanken. Das heißt, bis ich in dem langen steinernen Gang um die Ecke bog und mit Macey zusammenstieß.
Sie lehnte an der Mauer und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich lüge deine Mutter nicht gerne an«, sagte sie. »Ich belüge meine, aber nicht deine.« Dann lachte sie leise, stieß sich von der Mauer ab und musterte mich. »Ich hoffe, er ist es wert.«
»Ja«, wisperte ich.
Sie blieb kurz vor mir stehen, bevor sie weiterging. »Wirklich? Echt? Ich kann nämlich nicht erkennen, was so besonders an ihm ist, dass du riskierst, zu verlieren, was du hast.«
Ein guter Gedanke. Ein hervorragender Gedanke, vor allem, wenn man Macey McHenry heißt und dir alles im Leben geschenkt worden ist. Wenn die Welt deine glatte Hülle sieht und nur Süßes darunter vermutet. Wenn dies deine einmalige Chance ist, zu einer Familie zu gehören – trotz deines berühmten Familiennamens. Ja, dann ist das ein echt guter Gedanke.
»Er ist einfach …«, begann ich. Ich wollte »lieb« oder »mitfühlend« oder »witzig« sagen, weil alles stimmte. Stattdessen sagte ich: »Er ist ein ganz normaler Typ.«
»Hmm«, machte Macey. »Ich kenne viele normale Typen.«
Ich sah sie an. »Ich nicht.«
J osh sollte mich am Pavillon treffen, aber er war nirgends zu sehen. Es war überhaupt niemand zu sehen. Ich warf einen Blick auf das Kino – nichts. In keinem Laden brannte ein Licht, und als ein Stück orangefarbenes Papier über den verlassenen Marktplatz
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