Splitter im Auge - Kriminalroman
wieder freigelassen, weil der Richter wegen der geringen Menge Marihuana keine Untersuchungshaft bejahte. Am Abend des 14.7. war das schwere Unwetter über Dortmund niedergegangen; das war der Zeitpunkt, an dem Svenja Thon, wie sie Steiger vorgestern Nacht erzählt hatte, Caroline Thamm noch gesehen hatte. Wenn diese Aussage stimmte – und sie hörte sich ziemlich glaubhaft an –, dann stimmte ihre Theorie nicht. Er ging in Gedanken die Szenarien durch, die mit diesen Fakten möglich waren: Yameogo könnte einen Mittäter gehabt haben, das hatten sie ohnehin eine Zeitlang diskutiert, es aber letztlich verworfen, weil kein anderes Indiz und schon gar keine Spur dafür sprachen. Er konnte Caroline Thamm auch nach dem 15.7. getroffen und irgendwohin verschleppt haben. Aber wo war sie dann in der Zwischenzeit gewesen? Zwei lange Tage, an denen sie außer Svenja Thon niemand gesehen hatte, auch nicht aus ihrem Freundeskreis, jedenfalls niemand, den sie ermittelt hatten. Wahrscheinlich würde es eine Erklärung geben, denn dass der Schwarze der Täter war, daran gab es keinen Zweifel. Trotzdem entschloss er sich, die Akte noch einen Tag zu behalten und morgen Jutta zu bitten, sie für ihn zu kopieren. Jutta war ihre Schreibkraft, die sie sich aus Kostengründen mit einer anderen Dienststelle teilen mussten, und morgen war sie beim ET . Schulze musste davon ja nichts erfahren. Steiger legte den Ordner auf seinen Schreibtisch und sagte Jana Bescheid, dass er fertig sei. Sie hatte schon gewartet.
11
Um halb sechs hatten Jana und Steiger die beiden Vollstreckungs-Haftbefehle abgearbeitet, die sie sich für den Tag vorgenommen hatten. Ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz war nicht zu Hause gewesen, aber einen dürren Zwanzigjährigen mit käsigem Gesicht und löchrigen Schuhen hatten sie in seinem Zimmer im Keller des Elternhauses aus dem Bett geworfen. Das Zimmer war eine Bruchbude, die aussah wie ein bewohnter Bombentrichter. Weil der Bursche die Geldstrafe von gut dreihundert Euro nicht bezahlen konnte und seine Eltern ihm das Geld auch nicht gaben, wurde er festgenommen. Manche Menschen fingen bei der Erziehung einfach zu spät mit der strengen Linie an, fand Steiger. Verurteilt worden war er für ein paar Graffiti-Tags, die er an die Fassade einer Bank gesprüht hatte, und weil er blöd genug gewesen war, sich dabei erwischen zu lassen. Steiger fragte sich, was einen Kerl in dem Alter dazu brachte, seine Zeit damit zu verbringen, die Stadt mit unleserlichen Buchstabenkombinationen zu überziehen. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen Graffitis gehabt hätte, die meisten Bilder waren wenigstens bunt und sahen schön skurril aus, er verstand nur die Motivation ihrer Schöpfer nicht. Wahrscheinlich hatte es etwas damit zu tun, Spuren zu hinterlassen, überlegte er, fand aber im selben Augenblick, dass sich das reichlich nach Hausfrauenpsychologie anhörte.
Mit zwanzig hatte er sein letztes Jahr in der Polizeiausbildung verbracht, und wenn der Dunst der Jahre seine Erinnerung nicht trübte, hatten sie damals noch alle vorgehabt, richtige Polizisten zu werden. Hinter Einbrechern herjagen, sich mit üblem Pack schlagen oder wilde Verfolgungsjagden durch nächtliche Innenstädte veranstalten, diese Bilder hatten sie damals im Kopf gehabt und sich gegenseitig erzählt. Eben einfach zu den Guten gehören, das war das Ziel. Er musste lachen. Es gab ein Foto aus der Zeit, an das er sich erinnerte, aber er hatte es verlegt, wahrscheinlich sogar verloren. Dennoch sah er es vor sich, als hielte er es in Händen. Wie sie dastanden in Dreierreihen und mit glatten Gesichtern, das erste Mal in der normalen Uniform anstatt der grausamen Hausanzüge, die eher wie Sträflingsklamotten ausgesehen hatten. Er ging die Jahre durch und versuchte herauszufinden, wann es aufgehört hatte, aber es gelang ihm nicht. Vielleicht ließ sich das auch gar nicht auf einen Tag festlegen oder eine Woche oder einen Monat, vielleicht war es ganz langsam gestorben. Jedenfalls war bei ihm nicht mehr viel übrig von dem, was sie auf diesem Bild so zuversichtlich hatte aussehen lassen.
Er sah Jana an, die den Wagen gelassen durch den Dortmunder Feierabendverkehr lenkte, und betrachtete sie so lange, bis sie mit einer gespielt misstrauischen Miene zurückblickte. Jana hatte es noch. Aber es war keine Altersfrage, da war er sich sicher, denn Batto und einige andere, die ihm einfielen, hatten es auch noch. Es gab andere Gründe.
»Ist was
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