Splitter im Auge - Kriminalroman
etwas frischer als in der U-Bahn.
»Mein Gott, heute ist Sonntag. Arbeitet die immer?«
»Sie putzt in einer Arztpraxis, das macht sie immer sonntags, da hat sie mehr Zeit.« Jenny sah schon wieder nach vorn aus dem Fenster. »Und heute kommt noch ein Büro dazu, ausnahmsweise.« Beim letzten Wort betonte sie jede Silbe.
Er überlegte, ob sich nicht mal ein Arzt das Mädchen ansehen sollte. Sie machte aber keinen sehr verwirrten Eindruck und schien schon wieder auf dem Weg zurück zu sein.
»Was hast du geschluckt, Jenny?«, fragte er.
»’ne Pille«, sagte sie mit einer Verzögerung, die er noch okay fand.
»Wie sah die aus?«
Steiger sah ihr an, dass sie angestrengt überlegte.
»Grün, hellgrün«, sagte sie.
»Und wer hat dir die gegeben?«
»Tobias.«
»Ist das der Blonde?«
Sie nickte und wirkte immer noch abwesend, aber nicht völlig durch den Wind. Er hatte keine Ahnung, was man ihr gegeben haben konnte, dafür kannte er sich mit dem Zeug zu wenig aus. Morgen würde er Jürgen Brüschin fragen, womit diese Arschgesichter solche Geschichten machten. Besonders stark schien es nicht zu sein.
Als sie zu Hause ankamen, war sie schon wieder so weit auf dem Damm, dass er den Arztbesuch endgültig zu den Akten legte. Aber allein lassen wollte er sie noch nicht.
»Wann kommt deine Mutter nach Hause?«, fragte er.
»Weiß ich nicht so genau.«
»Ist das jeden Sonntag so, dass du den ganzen Tag allein bist?«
»Nein«, sagte sie und ging ganz selbstverständlich an ihrer Wohnungstür vorbei nach oben. »Die Arztpraxis schon, dass sie jetzt noch arbeitet, ist eine Ausnahme.«
Er schloss auf, und sie ließ sich aufs Sofa fallen.
Bei einem Erwachsenen hätte er jetzt Kaffee für eine gute Idee gehalten, aber nicht bei einer Dreizehnjährigen. Er ging an den Kühlschrank und fand noch Cola.
Sie riss den Bügel der Dose auf und trank einen Schluck.
»Sagst du Mama was davon?«, fragte sie, und Steiger hielt die Frage für ein gutes Zeichen.
»Du hast Drogen genommen, Jenny, meinst du nicht, dass deine Mutter das wissen sollte?« Wieder hörte er seinen eigenen Worten zu und fand, dass er sich wie der Vater dieses Mädchens anhörte, was ihm nicht gefiel. »Woher kennst du die beiden?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Aus der Stadt«, sagte sie und trank noch einen Schluck.
»Hast du vorher schon mal was genommen?«
Sie sah ihn an und sofort wieder weg.
»Ja, einmal, letzte Woche.«
Steiger seufzte und hatte keine Ahnung, was bei einem Mädchen in dem Alter richtig sein konnte. Er setzte sich neben sie aufs Sofa. »Ich erzähle deiner Mutter nichts, unter einer Bedingung.«
Sie sah ihn an, und in ihrem Blick erkannte er, dass sie wusste, was jetzt kam.
27
Kagawa machte das 2:0, und Steiger hatte die Schnauze so gestrichen voll, dass er überlegte, vorzeitig zu gehen. Es war zwar noch eine halbe Stunde zu spielen, aber es sah nicht einmal ansatzweise so aus, als könnten die Blauen hier noch ein Tor machen, das Ding zu drehen war völlig utopisch. Er hatte sich seinen Sonntag anders vorgestellt, in jeder Beziehung, und dass die Gelben das Derby nicht nur deutlich gewannen, sondern das auch noch verdient, gab dem Tag den Rest.
Jennys Mutter war auch um zwei noch nicht von ihrer letzten Putzstelle zurück gewesen, und Steiger hatte für zwei Sekunden den abstrusen Gedanken gehabt, das Gör verarsche ihn und wohne unten ganz allein, ohne Mutter, ohne irgendwen sonst, und gehe auch gar nicht zur Schule, alles gelogen, eine Realität, die nur in seinem Kopf existierte. Das Gegenteil beweisen konnte er zumindest nicht.
Sie war um die Zeit aber wieder völlig klar gewesen, und so hatte er sie ruhigen Gewissens in ihrer Wohnung allein lassen können. Wie er weiter mit der Sache umgehen sollte, wusste er noch nicht.
Die Observation der Wohnung seines neuen Halbbruders hatte er sausen lassen, sonst wäre es mit dem Fußballspiel eng geworden. Er war stattdessen ins Asylantenheim gefahren. Die Sache mit dem Kennzeichen war ihm seit gestern nicht aus dem Kopf gegangen, und er wollte den Mann noch einmal ganz eindringlich zu der Situation befragen.
Bei einem Besuch in einem Heim für Asylsuchende an einem Sonntagnachmittag bekam man eine Ahnung davon, wie es beim Turmbau zu Babel zugegangen sein konnte, fand Steiger. Es hatte seine Zeit gedauert, bis er sich über die Tamilen und Iraner zu den Ghanaern und einem halben Dutzend anderer afrikanischer Nationalitäten durchgefragt hatte, die ihn schließlich
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