Spürst du den Todeshauch: Thriller (German Edition)
Keine Viertelstunde, und er ist wieder verschwunden, dachte sie.
Clyde bekam einen Hustenanfall, sein Körper bebte unter dem gleichen tiefen, rasselnden Husten, den sie schon im Krankenhaus miterlebt hatte. »Clyde, hier haben Sie einige Flaschen Wasser. Sie müssen Ihre Medikamente nehmen.«
»Ja. Danke. Es ist wirklich schön hier. So gemütlich.«
»Ich sehe, Ihr Humor ist Ihnen noch nicht vergangen«, sagte Shirley. »Viel Glück, Clyde. Ich werde in ein, zwei Tagen wieder vorbeischauen.«
»Das wäre nett.«
Was ist er für ein Mensch?, fragte sich Shirley, als sie die vier Geschosse hinunter in die Lobby ging. Entweder nahm man die Treppe oder den Aufzug, der allerdings fiel häufig aus. Vor ein paar Monaten war sie über eine Stunde darin eingeschlossen gewesen.
Draußen auf dem Bürgersteig stand sie noch lange so da, schloss den obersten Knopf ihres Mantels und überlegte, ob sie im Macy’s noch schnell ein Geschenk für die Babyparty kaufen sollte, zu der sie am Samstag eingeladen war. Aber der Gedanke an ihre hübsche Wohnung in Brooklyn und die Tatsache, dass ihr Mann heute seinen freien Tag hatte und versprochen hatte, groß aufzukochen, war zu verlockend. Sie ging zur Straßenecke, wo sich der nächste U-Bahn-Eingang befand, und war dankbar für ihr Zuhause, in dem eine liebevolle und warme Atmosphäre herrschte.
Wenn ich doch Menschen wie Clyde wirklich helfen könnte, dachte sie. Ich kann dafür sorgen, dass er nicht irgendwo in einer dunklen Gasse an Lungenentzündung stirbt – aber das ist auch schon alles.
54
P eggy Hotchkiss hatte sich in ihrem Haus auf Staten Island vor den Fernseher gesetzt und sah sich dieselbe Nachrichtensendung wie ihr Sohn und ihre Schwiegertochter an. Und dann schnappte sie erschrocken nach Luft. Sie stöhnte auf und umklammerte die Armlehnen ihres Clubsessels, in dem sie saß.
Ihr Blick ging zum Sims über dem offenen Kamin, wo das Foto von ihr und Clyde und Skip stand. Es war nur wenige Wochen vor ihrem vorweihnachtlichen Besuch bei ihren Eltern in Florida aufgenommen worden. Bei ihrer Rückkehr hatte sie auf dem Esszimmertisch den Zettel von Clyde sowie Geld und seine Vietnam-Orden gefunden. Das Foto, das Clyde mitgenommen hatte, hatte sie durch einen ursprünglich ihren Eltern geschenkten Abzug ersetzt.
Im ersten Moment war sie geschockt gewesen, aber auch zuversichtlich, dass man ihn bald finden und ihm helfen würde. Aber er blieb verschwunden. Monatelang hatte sie immer wieder das Leichenschauhaus aufgesucht, wenn Unbekannte seiner Größe und Statur aufgefunden wurden. Jedes Mal hatte sie auf das aufgedeckte Gesicht des Toten gestarrt, den Kopf geschüttelt und sich wieder abgewandt.
Clyde blieb verschwunden, es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo er sich aufhielt. Nach zwölf Jahren, ohne neue Informationen, hatte sie sich von ihrem Vater dazu überreden lassen, ihn gesetzlich für tot zu erklären, damit ihr seine Lebensversicherung ausgezahlt würde. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, als er verschwunden war. Sie hatte während Clydes Militärzeit als Sekretärin gearbeitet, nachdem aber das Baby da war, hielt sie es für vernünftiger, einen Job in einem nur zwei Straßen entfernten Delikatessenladen anzunehmen, statt wieder nach Manhattan zu pendeln.
Jetzt, einundvierzig Jahre später, war Peggy mit ihrem Leben zufrieden. Sie war achtundsechzig Jahre alt und immer noch eine gut aussehende Frau. Skip war immer das Kind gewesen, das sich Eltern nur wünschen konnten. Mit dem zusätzlichen Einkommen aus der privaten Rentenversicherung, die er für sie abgeschlossen hatte, konnte sie ein komfortables Leben führen. Das Haus, das sie nie aufgegeben hatte, war grundlegend renoviert worden und besaß nun Thermofenster, eine Dampfdusche im oberen Badezimmer und eine neue Küche. »Und weiß Gott, was er mir noch alles unterjubeln will«, beschwerte sie sich augenzwinkernd bei ihren Freunden.
Peggy, deren Glaube ihr ein Quell der Stärke war, engagierte sich als Laienpredigerin in der Kirchengemeinde und half regelmäßig in der Obdachlosenunterkunft ihres Viertels mit. Durch die Arbeit im Delikatessenladen war sie zu einer ausgezeichneten Köchin und Bäckerin geworden, und die Stammgäste der Unterkunft wussten immer, wenn Peggy Hotchkiss in der Küche gestanden hatte.
Donald Scanlon und seine Frau Joan waren ihr in all den Jahren Nachbarn und Freunde gewesen. Joan war mittlerweile seit fünf Jahren tot, und Donald machte gegenüber seinen
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