Spuren im Nichts
und wieder beschleunigen. Sie waren jetzt am Äquator und fuhren in westlicher Richtung.
Kim hatte angefangen, Markis Kanes Lieblingsromane zu lesen, Veronica King. In der Woche nach ihrer Rückkehr aus dem Severin Valley hatte sie vier der Bücher ausgelesen, und während der Fahrt nach Terminal City hatte sie mehrere Male versucht, ein fünftes zu beenden, doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. Sie dachte an das bevorstehende Interview mit Benton Tripley und formulierte in Gedanken die Fragen, die sie ihm zu stellen gedachte.
Der Zug hielt auf Clavis Island. Fast alle Passagiere stiegen aus, aber noch mehr kamen an Bord. Nachdem der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, spazierte Kim zum Speisewagen und aß zu Mittag.
Während sie noch bei Gemüse und Hähnchen saß, passierte der Seahawk den letzten Tunnel, überquerte die Morgantown Bay und geriet dann in schweres Regenwetter. Entlang diesem Küstenabschnitt erstreckten sich die Berge bis unmittelbar ans Meer. Der Seahawk raste in einen Canyon und durch den Edmonton Defile, der in Wirklichkeit aus einer Serie von Kämmen und Kanälen bestand.
Sie waren zwanzig Meter über dem Meer und fuhren an einer Klippe entlang, als Kim ihre Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf Veronica King und die ›Dämonenlampe‹ richtete. Der Witz ihrer Geschichten bestand darin, dass die wichtigen Informationen vor den Augen des Lesers ausgebreitete wurden, ohne dass dieser es bemerkte. ›Die Dämonenlampe‹ spielte auf der großen Wüsteninsel Kawahl an einer archäologischen Grabungsstelle, die mehrere Schichten umfasste. Zwei Menschen waren ermordet worden, und das Motiv war angeblich in einem Turm versteckt. Doch nirgendwo auf diesem sonnenverbrannten Stück Erde gab es einen Turm. Außer natürlich bei der archäologischen Grabung: verschüttet nach mehreren Jahrhunderten und einer Klimaverschiebung.
Kim hatte das Buch ausgelesen, als der Seahawk nach und nach auf Meereshöhe herunter glitt und die Berge hinter ihnen blieben. Sie war auf der falschen Seite des Zuges, um etwas davon zu sehen, aber sie wusste, dass der Orbitalaufzug jetzt in Sicht kam.
Reisende, die das Bauwerk zum ersten Mal sahen, staunten meistens mit offenen Mündern. Orbitallifts waren vielleicht nicht das unglaublichste Wunder menschlicher Ingenieurskunst, aber ganz bestimmt das spektakulärste. Fünf der Neun Welten besaßen Orbitallifts, und auf Tigris war ein weiterer im Bau. Greenways Lift, der mit Terminal City verbunden war, lag nur noch zwölf Kilometer entfernt. Das gigantische Bauwerk erhob sich mitten aus der Stadt und verschwand hoch oben in den Wolken.
Die Menschen standen auf und drängten sich an der rechten Seite des Waggons. Kim erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Gebilde und ein paar Sonnenstrahlen, die über seine Wetterseite zogen. Der Anblick erfüllte sie jedes Mal aufs Neue auf eine undefinierbare Weise mit Stolz.
Minuten später fuhr der Zug in das Bahnhofsgebäude ein und hielt. Passagiere stiegen aus und strömten in ein gewaltiges Gewirr aus Läden und Gängen, Wartebereichen und Cafeterias. Kim nahm sich eine Minute Zeit, bis sie sich orientiert hatte. Dann setzte sie sich gemächlich in Richtung Lift in Bewegung. Sie sah Menschen, die religiöse Literatur verteilten, und andere, die Unterschriften sammelten für politische oder soziale Kampagnen. Einige wollten den Vorsitzenden einer der Eisenbahnlinien seines Postens enthoben sehen, andere hofften auf Unterstützung für das eine oder andere Projekt.
Kim hatte noch ein wenig Zeit, also blieb sie auf der Hauptpromenade und trank irgendwo ein Glas Fruchtsaft. Der Gedanke kam ihr zu Bewusstsein, dass sie im Begriff stand, sich in die gleiche Position zu manövrieren, wie Sheyel es zuvor bei ihr getan hatte. Falls sie nicht ganz besonders vorsichtig war, würde Benton Tripley unweigerlich den Schluss ziehen, dass sie eine Irre war.
Einmal pro Stunde ging ein Lift nach oben. Die Gondel enthielt eine Lounge, eine VR-Einrichtung, einen Souvenirladen, der sich auf Becher und T-Shirts von Sky Harbour spezialisiert hatte, sowie das Four Moons, einen privaten Club, in dem sich Mitglieder an einer Bar entspannen oder Billard spielen oder für sich allein eine VR-Nische benutzen konnten.
Das Bordcafe der Gondel hieß Nik’s. Der Laden war überteuert, und die Sandwichs schmeckten nach Plastik, doch der Kaffee war in Ordnung. An den Wänden hingen handsignierte Bilder von Berühmtheiten, die das Café
Weitere Kostenlose Bücher