Spuren in der Wüste
Aber jetzt werde ich Mutters Augen malen können,
denn jetzt erinnere ich mich wieder, daß sie wie die deinen waren,
ja, ganz genauso, gut und immer lieb mit uns und nur ein bißchen
traurig.«
»Eine bittere Geschichte«, sagte Irene.
»Sie ist lange her«, antwortete Katharina. »Ich hoffe, ich habe
dich nicht erschreckt. Ich meine, ich hätte lieber schweigen sollen, nicht wahr? Aber es kam so über mich – ich weiß auch nicht, warum.« Und sie schaute Irene an, und Irene war es, als wisse Katha-
rina alles über sie und ihr verpfuschtes unglückseliges Leben, und
am liebsten hätte sie nun davon gesprochen, aber sie hatte es noch
nie tun können. Noch nie, nie.
Immer würde Irene später denken, daß die zwei Wochen, die sie bei
Katharina verbrachte, die schönsten ihres Lebens gewesen waren,
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weil sie so ruhig und gemächlich dahinflossen.
Katharina arbeitete an dem Porträt ihrer Mutter wie eine Beses-
sene oder wie jemand, der spürt, daß ihm nicht mehr viel Zeit be-
schieden ist. Gern ließ sie es zu, daß Irene sich um die Vierzimmer-
wohnung kümmerte, die Mahlzeiten kochte – was ihr übrigens viel
Spaß machte –, zu Einkäufen in die kleinen Läden in der Gegend
ging, immer in ihrem unauffälligen dunkelblauen Mantel und dem
Hut, unter dem sie ihr auffälliges Haar verstecken konnte.
In den Läden bekam sie bald den Spitznamen die ›Betschwester‹,
aber das war ganz und gar nicht böse gemeint, denn Irene war im-
mer freundlich und liebenswürdig, und bald bekam sie beim Metz-
ger das beste Stück Fleisch und im Kramladen gleich daneben das
frischeste Gemüse.
Katharina verfügte über eine umfangreiche Bibliothek, deren viel-
gelesene Bände bei den Klassikern anfingen und den besten Werken
moderner Autoren in Englisch, Französisch und Deutsch endeten.
Wenn das Wetter es zuließ – und es war ein freundlicher Som-
mer, nicht schwül und drückend, wie man das im Rheintal gewöhnt
ist –, lag Irene viele Stunden auf einer Decke unter dem Ahorn-
baum im Garten, und zum erstenmal in ihrem Leben erfuhr sie,
wieviel Anregung und Freude man aus Büchern gewinnen kann.
Hin und wieder wagte sie sich auch mit Katharina in eine Abend-
vorstellung eines Kinos, wenn dort ein guter Film gegeben wurde.
Und auch das war neu für sie, denn Jim hatte sich, beispielsweise
im Fernsehen, nur die knallharten Western angeschaut oder aber in
privaten Vorstellungen, zu denen er sie zwang, mitzugehen, Porno-
streifen, die ihr übel machten.
Irene versuchte sich sogar am Klavierspiel, denn Katharina besaß
ein schönes altes Klavier, und tatsächlich gelangen ihr bald Tonfol-
gen und Melodien, seltsamerweise meist Kinder- und Wiegenlieder
aus ihrer Kindheit, die sie längst vergessen zu haben glaubte.
»Du bist talentiert«, sagte Katharina dann oft und unterbrach ihre
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Arbeit an dem Porträt. »Du sol test Stunden nehmen. Ich kenne ei-
nen alten pensionierten Musiklehrer; ihm würde es Freude machen,
dich zu unterrichten.«
Aber Irene sagte dann: »Bitte nicht. Es macht mir einfach Freude,
so zu spielen, und du weißt doch, fremde Menschen machen mir
ein bißchen Angst.«
Und Katharina nickte und sagte: »Wie du willst. Ich will dich ja
zu nichts zwingen.«
Einige Male lud Katharina Freunde zum Abendessen ein – beim
erstenmal entschuldigte Irene sich mit Kopfschmerzen. Beim zwei-
tenmal brauchte sie keine Notlüge mehr.
»Bitte versteh, daß ich mich um meine Freunde kümmern muß«,
sagte Katharina. »Sie haben mir über viele Jahre Halt und Freude
gegeben. Obwohl ich jetzt«, und da lachte sie auf ihre leise Art,
»am liebsten immer mit dir allein wäre.« Und zum erstenmal las
Irene in den alten und doch so jungen Augen die ängstliche Frage:
Wann wirst du mich wieder verlassen? Spontan schloß sie Katharina
in ihre Anne und sagte: »Ich bleibe so lange bei dir, wie du mich
haben willst.«
»Oh, das müssen wir feiern«, rief Katharina glücklich, und sie hol-
te eine Flasche Champagner, und bald scherzten und alberten sie
miteinander, als wären sie beide ganz junge Mädchen, die zum ers-
tenmal den prickelnden Reiz dieses Getränkes genießen.
Als das Portät vollendet war, trug Katharina es in das kleine Gäs-
tezimmer, das Irene als die einzige wirkliche Heimat erschien, die
sie jemals besessen.
»Wenn es dir gefällt, so soll es dir gehören«, sagte Katharina, zwi-
schen Scheu und Stolz schwankend, denn es war ein sehr gutes
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