Spuren in der Wüste
Bild
geworden, das wußte sie selbst.
Und sie hängte es über dem kleinen Schreibtisch auf, der dem
Bett genau gegenüber stand, und Irene wußte, sie würde von nun
an nicht mehr einschlafen können, solange auch nur der kleinste
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Lichtschimmer noch in die Augen ihrer Großmutter fiel.
Denn sie las all das darin, was sie über so viele, viele Jahre stumm und verschlossen in sich selbst getragen hatte.
Das aber sagte sie natürlich nicht.
Wenige Tage später bekam Katharina leichtes Fieber. Sie nahm
Aspirin dagegen, das Fieber blieb.
»Bitte, laß uns einen Arzt rufen«, bat Irene.
»Kind, lebst du auf dem Mond?« sagte Katharina mit einer an ihr
ungewohnten Schärfe. »Unsere Ärzte sind so überlastet, die machen
wegen einem bißchen Fieber keinen Hausbesuch mehr. Und ich
will in keinem überfüllten Wartezimmer sitzen, wo ich mir wer
weiß was für eine Krankheit einfangen kann.«
Das Fieber stieg zwar nicht, aber Katharina aß mit weniger und
weniger Appetit, obwohl sich Irene nun besondere Mühe bei der
Zubereitung der Speisen gab.
Und dann, eines Morgens, kam Katharina nicht zum Frühstück.
Als Irene ihr eine Tasse heiße Milch mit Honig bringen wollte,
lag die alte Frau still und reglos in ihrem Bett.
»Tante Kathy!«
Ein leichtes Lächeln lag um die blassen Lippen und auch in den
Winkeln ihrer Augen, aber sie antwortete nicht.
»Tante Kathy!« Irene stellte schnel die Milch auf den Nachttisch
und kniete neben dem Bett nieder, und als sie die kalten Hände be-
rührte, wußte sie, daß Katharina tot war.
Irene konnte nicht weinen; sie preßte nur ihr Gesicht auf die kal-
ten Hände und dachte: Nein, nein, nein. Bitte, bitte, wach doch
wieder auf. Bitte.
Sie zitterte am ganzen Körper.
Aber nach einer Weile ließ das Zittern nach, und sie konnte sich
wieder aufrichten und aufstehen.
Sie zog die Vorhänge des Fensters zu, die sie bei ihrem Eintritt
geöffnet hatte.
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Sie ging in die Diele, nahm den Schlüssel der Wohnungstür von
dem kleinen hölzernen Bord neben dem Kleiderständer.
Sie stieg in die erste Etage hinauf, wo ein älteres Ehepaar wohnte,
beide ehemalige Studienräte.
Der alte Herr öffnete ihr.
Ein Blick in Irenes Gesicht genügte ihm. Er faßte stützend nach
ihrem Ellenbogen. »Ihre Tante?« fragte er, und Tränen traten ihm
in die Augen, aber seine Stimme blieb fest.
Sie nickte nur.
»Ich komme mit Ihnen nach unten.«
Und er war es dann, der den Arzt rief, und der Arzt stellte Herz-
versagen fest, und der alte Studienrat sagte: »Ja, sie litt schon lange unter Herzbeschwerden. Meine Frau und ich haben ihr so oft geraten, doch ärztliche Hilfe zu suchen, aber sie sagte darauf immer
nur lächelnd: ›Wenn es an der Zeit ist, werde ich nicht ungern von
dieser Welt gehen.‹ Und Sie«, er neigte leicht seinen Kopf in Irenes Richtung, »haben ihr die letzten Wochen auf eine sehr gute und lie-benswerte Weise verschönt.«
Die nächsten Tage waren für Irene, als watete sie ständig durch
kaum zu durchdringenden Nebel.
Da waren die Vorbereitungen für die Beerdigung und dann die
Beerdigung selbst. Es kamen viele ältere Leute mit einem seltsam
stumpfen Gesichtsausdruck, wie es ihr schien. Niemand weinte,
es gab keine rührseligen Szenen.
Es gab keinen Leichenschmaus, denn Irene fand diese Sitte so ab-
scheulich, daß sie sich nicht dazu hatte durchringen können.
Mit dem älteren Ehepaar aus dem Haus fuhr sie vom Friedhof im
Taxi zurück. Und diese beiden bat sie in die Wohnung.
Sie goß aus einer Flasche ein wenig Portwein in kleine, sehr alte
Kristallkelche.
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Und sie tranken dieses eine Glas im Andenken an eine Frau, die
sie alle drei, jeder auf seine Weise, geliebt und verehrt hatten.
Der alte Herr hüstelte ein wenig und sagte dann: »Sie hat diese
Wohnung sehr geliebt, und ich glaube, sie würde wünschen, daß
Sie hierblieben.«
Und Irene versuchte es.
Aber ohne Katharina wurde die Wohnung leerer und leerer und
kälter und kälter.
Und schließlich tauchte ein Hausverwalter auf und beschied
ziemlich barsch und unfreundlich, daß der Mietvertrag nicht ver-
längert werden könne, die Wohnung schon anderweitig vergeben
sei und Irene sie binnen einer Woche von den Möbeln und sons-
tigen Besitztümern der Verblichenen zu räumen und selbstverständ-
lich ›dat Malzimmer‹ zu renovieren habe.
Irene ertrug dies stumm, wie sie schon vieles in ihrem Leben er-
tragen hatte. Aber was sollte sie mit Katharinas Möbeln
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