Spuren in der Wüste
Mann?« fragte Katharina lächelnd. »Wenn ich
mich recht erinnere, hat er dich doch mit nach Kalifornien genom-
men, nicht wahr?«
»Ja, Jim nahm mich mit nach Kalifornien.«
»Aber du möchtest nicht gern darüber sprechen?«
Stumm schüttelte Irene den Kopf.
»Auch gut«, sagte Katharina sofort, »ich kann es verstehen. Ich
konnte auch jahrelang nicht über Dieter sprechen, auch wenn ich
Stunde um Stunde an ihn gedacht habe. Ja, das verstehe ich sehr
gut.«
Irene dachte nicht an Jim, wenn sich nicht sein Gesicht, seine
Stimme in ihre Träume stahlen – und das waren dann immer Alp-
träume. Aber sie dachte an Werner und spürte plötzlich Tränen in
ihren Augen brennen. Wenn sie ihn doch nur nicht hätte verlassen
müssen. Wenn sie doch nur frei für ihn wäre. Frei von ihren Ängs-
ten und ihrer Schuld und den dunklen Männern oder Mächten, wie
immer sie es nennen wol te, die sie seit sechs Jahren als Geisel hielten.
»So«, sagte Katharina in ihre Gedanken hinein und hob ihr Glas,
»der letzte Schluck Wein, den trinken wir jetzt auf die schönen
Tage, die wir miteinander verbringen wollen, nicht wahr?«
Und auch Irene hob ihr Glas und sagte leise: »Ich danke dir, für
alles, Tante Katharina.«
»Ach Unsinn, gern geschehen. Aber nun komm, ich wil dir noch
das Porträt meiner Mutter zeigen, bevor wir schlafen gehen.« Und
sie führte Irene in einen kleinen kahlen Raum mit einem großen
Fenster nach Norden, vor dem jetzt die Nacht stand. Eine hoch-
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wattige Lampe hing von der Decke, und darunter stand die Staffelei
mit dem beinahe vollendeten Porträt darauf. Irene unterdrückte ei-
nen kleinen Schreckenslaut. Das Gesicht glich dem ihren zum Ver-
wechseln, aber nicht das ließ sie zurückweichen, sondern die Augen
– die Augenhöhlen waren leer.
»Ihre Augen waren seltsam«, sagte Katharina ruhig neben ihr,
»aber vielleicht ist das auch nicht verwunderlich. Ihr Leben war
sehr schwer, und am Ende –«, sie stockte, »am Ende tötete sie un-
seren Vater.«
Irene spürte, wie sich ihr ganzer Körper mit Eiseskälte überzog.
»Eine Mörderin, nein, das war sie nicht«, sagte Katharina, »ob-
wohl man ihr den Prozeß machte. Aber man mußte sie von aller
Schuld freisprechen, denn sie hatte aus Notwehr gehandelt. Er quäl-
te sie, er war sehr jähzornig, und das schlimmste war, daß er uns
Mädchen schlug, besonders als wir noch klein waren und uns we-
der wehren noch zu verstecken verstanden. Und oft genug konnten
wir tagelang nicht mit anderen Kindern spielen, und oft genug
konnten wir nicht in die Schule gehen, weil wir so zerschunden
waren.«
»Aber ihr habt doch Nachbarn gehabt, mitten in einem Dorf ge-
lebt – hat sich denn niemand um euch gekümmert, um deine Mut-
ter und euch?«
»Ach, Irene, das war noch zu einer Zeit, da Kinder regelmäßig
Prügel bekamen; die Nachbarn schauten einfach weg und hielten
sich die Ohren zu. Und außerdem, vergiß nicht, unser Vater war
lange Zeit der Bürgermeister, obwohl er nicht einmal der reichste
Bauer im Ort war. Ich glaube, jeder hatte Angst vor ihm.«
»Wie – wie hat sie es getan?« fragte Irene, und die Eiseskälte kroch unter ihre Haut und umklammerte ihr Herz.
»Vater hatte immer eine geladene Schrotflinte im Schlafzimmer.
Bei all seiner Stärke und Brutalität war er ein furchtsamer Mann.
Und als er deine Mutter einmal nahm und ihren Kopf immer wie-
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der gegen den Herdriegel schlug, nur weil sie ohne seine Erlaubnis
ein Plätzchen von ihrem Weihnachtsteller genascht hatte, da hielt
unsere Mutter es wohl nicht mehr aus. Ich weiß noch, sie rief: ›Laß
von ihr ab, laß von ihr ab!‹ Er tat es nicht, bis deine Mutter zu Boden fiel, und dann wandte er sich um und sagte: ›Für heute hat das
Balg genug. Es wird nichts mehr stehlen.‹ Und da nahm unsere
Mutter ganz ruhig das Gewehr und erschoß ihn.«
»Mein Gott, meine Mutter hat uns nie was davon erzählt.«
»Warum auch? Sie war ja noch so klein. Und vielleicht hat sie es
sogar ganz vergessen. Ich meine, so eine Erinnerung kann man ja
verdrängen. Denn unsere Mutter trug sie sofort aus dem Haus und
zum Pfarrer, und ich lief hinterher. Und beim Pfarrer blieben wir,
bis die Beerdigung vorbei war und noch die Wochen lang, bis Mut-
ter aus dem Gefängnis kam. Und da war keine Spur mehr von un-
serem Vater in unserem Haus. Und da wir nur Angst vor ihm ge-
habt hatten, waren wir Kinder froh und fragten nicht einmal mehr
nach ihm. –
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