Spuren in der Wüste
tun, dem
Geschirr, ihren Bildern, ihren Kleidern?
Und wieder kam ihr der alte Studienrat zu Hilfe.
Er schien traurig zu sein, daß sich die Dinge so entwickelt hatten.
»Wir müssen nachschauen, ob sich irgendwo ein Letzter Wille be-
findet«, sagte er. »Es täte mir sehr leid, wenn wir irgend etwas un-
ternähmen, das Ihre Tante nicht gewollt hätte.«
Und sie fanden tatsächlich einen Brief, der an Irene adressiert
war; in ihrer Schrift war die Schwäche der alten Frau zu erkennen,
und der Brief war auch nur kurz.
»Meine liebe Irene,
ich spüre, daß der Tag nicht fern ist, da ich fortgehen werde. Wohin?
– Wenn es einen Ort jenseits dieser Welt gibt, wo ich meinen Dieter wiedersehen könnte, wäre ich die glücklichste Frau. Aber wer weiß das schon, und ich wage es kaum zu hoffen.
Du aber, mein liebes Kind, bist noch jung, und Du sollst hoffen, und 49
eines Tages wirst Du mit dem Mann Deiner Wahl gewiß sehr glücklich werden.
Du gabst mir den Eindruck, daß Du dich bei mir wohl fühltest, und daher bitte ich Dich, nimm von den Dingen, die ich hinterlasse, was Dir lieb geworden ist.
Bitte, schenke das Kristall Herrn und Frau Courtz, die über mir wohnen, guten Freunden, die mir, bevor Du kamst, viele lange Stunden verkürzt haben. Mit den restlichen Dingen verfahre, wie Du es für richtig hältst. In meinem Nachtkasten findest Du einen Anhänger mit einem Aquamarin; er gehört zu dem Ring, den ich Dir zur Hochzeit sandte.
Beides hat mir Dieter einst geschenkt. –
Grüße Deine lieben Eltern und Deine liebe Schwester von mir. Ich um-arme Dich in Gedanken wie eine Mutter ihre Tochter,
Deine Katharina.«
P.S. »Höre niemals auf zu hoffen. Niemals, hörst Du!«
Der alte Herr weinte, als Irene das Kristall vorsichtig auf einem
Tablett zu ihm und seiner Frau in die Wohnung trug.
Seine Frau warf einen sehnsüchtigen Blick auf das kleine alte Kla-
vier, als sie Irene beim Einpacken der Bücher und anderen Dinge
half, und Irene schenkte es ihr.
Irene ließ die Möbel bei einer Speditionsfirma einlagern, Katha-
rinas Kleider gab sie an ein Altenheim.
Das Porträt ihrer Großmutter packte sie in einen passenden Ak-
tenkoffer, den sie dafür kaufte.
Katharinas Aquamarin trug sie an einem Silberkettchen unter
ihrem Kleid.
Sie besaß noch genügend Geld, um in einer kleinen Pension nahe
dem Zoo ein Zimmer für eine Woche im voraus zu bezahlen.
Sie beschloß, sich eine Arbeit zu suchen. Etwas Unauffälliges sol -
te es sein. Und sie fand eine Stel ung als Serviererin in einer kleinen Pizzeria, in der fast ausschließlich lustige und manchmal lärmige
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Italiener mit ihren Familien verkehrten.
Und noch einmal glaubte sie sich sicher.
Aber ihre Sicherheit währte nicht lange.
Das Netz, in das sie vor sechs Jahren geraten war, hatte einst nur
Hauptstädte umspannt, nun aber war es weiter ausgeworfen wor-
den, und gleichzeitig war es engmaschiger geworden.
Man hatte sie nur in Ruhe gelassen, weil für den Moment keine
Aktionen geplant waren, wie es im Fachjargon jener Leute hieß,
aber nun war die Zeit gekommen, da man es für richtig hielt, daß
dies ein heißer wilder Sommer werden sollte.
Und als Irene eines Abends in der Pizzeria, die wie üblich über-
füllt war, die Bestellungen aufnahm, den Karaffenwein brachte, die
hochgefüllten Platten mit Spaghetti à la Bolognese und à la Roma
und die Cannel oni und die in Olivenöl gesottenen Tintenfische, da
hörte sie die vertraute Stimme des Dunklen plötzlich, der in einer
schattigen Nische saß, die Augen hinter einer Sonnenbrille verbor-
gen, den Kopf so haltend, daß sie nur seine scharfgebogene Nase
sehen konnte.
»Du hast es nicht nötig, dich so abzurackern, meine Liebe!«
Sie blieb wie erstarrt stehen.
»Presto, presto, Irena!« rief es aus der Küche, und sie eilte schnel weiter.
Aber ihre Knie zitterten, und die Signora sagte: »Was ist? Siehst
aus wie eine Leiche.«
»Die Hitze, der Lärm.«
»Trink einen Grappa!« Und schon hielt Irene ein kleines Glas mit
dem scharfriechenden Schnaps in ihrer Hand und trank es auf ei-
nen Zug leer, und sie lief weiter, servierte, presto, presto, und sie schaute nicht ein einziges Mal in die Richtung des Dunklen, aber
sie spürte sehr genau, daß er sie nicht aus den Augen ließ.
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Der Dunkle ging, bevor die Pizzeria um zwölf Uhr nachts ge-
schlossen wurde, und Irene dachte: Ich bin ihm entkommen. Aber
sicher war sie nicht.
Und sie bat die Signora: »Bitte,
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