St. Leger 03 - Die Nacht der Feuerfrau
Mal angelogen.
Der Arzt reichte einem Diener seinen Mantel und begab sich zum Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses. Heute fiel ihm das Laufen noch schwerer als gewöhnlich. Und mit jedem Schritt schien auch der Kristallsplitter an Gewicht zu gewinnen. Ist doch lachhaft, sagte er sich. Nur ein dummes Stück Gestein, und seine Phantasie spielte verrückt.
Doch als er die Tür erreichte, musste er erst einen Moment verschnaufen. Dann klopfte er matt an und erhielt keine Antwort. Leise öffnete Valentine und trat ein. Das Arbeitszimmer strahlte eine sehr männliche Atmosphäre aus. Eichenholztäfelung bedeckte die Wände, an denen Drucke mit Jagdszenen hingen. Sein Bruder hockte vornübergebeugt an seinem Schreibtisch, der sich am Ende des Raumes befand. Er hatte die Jacke abgelegt, die Hemdsärmel hochgekrempelt und einen entnervten Gesichtsausdruck. Vielleicht weil er sich mit einem Brief abplagen musste, was noch nie zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört hatte.
Früher war Lance ein ungestümer Bursche gewesen, und erst Ehe und Vaterschaft hatten ihn gezähmt. Das Lächeln, das so viele weibliche Herzen betört hatte, schenkte er heute ausschließlich seiner Frau Rosalind. Valentine bemerkte, dass sein Bruder sich in den letzten Jahren überhaupt nicht verändert zu haben schien. Der jüngere Zwillingsbruder spürte oft genug jedes Einzelne seiner mittlerweile zweiunddreißig Jahre. Aber Lance sah man dieses Alter gewiss nicht an. Das blasse Morgenlicht, das durch die Fenster einfiel, betonte seine breiten Schultern und kräftigen bloßen Arme.
Die beiden hatten das gleiche Haar, die gleiche Hakennase und die gleichen Augen. Aber darüber hinaus ähnelten sie sich wenig. Lance war der Ältere von ihnen und hatte an einem kalten dreizehnten Februar kurz vor Mitternacht das Licht der Welt erblickt. Valentine war wie immer seinem Bruder hinterhergelaufen und ihm erst in den frühen Morgenstunden gefolgt.
Der Arzt betastete die Umrisse des Splitters in seiner Westentasche.
Wenn Lance an jenem Tag in Spanien nicht so rücksichtslos gegen sich selbst gewesen wäre, hättest du niemals deine Fähigkeiten zu seiner Rettung einsetzen müssen. Dein Bruder hätte an deiner Stelle das lahme Bein verdient... Aber Lance hatte nie ein solches Opfer gewünscht. Valentine hatte das freiwillig und gern getan - und er würde es jederzeit wieder tun. Denn er liebte und bewunderte seinen Bruder.
Verstört darüber, so etwas überhaupt zu denken, klopfte er fester an.
Lance hob den Kopf und drehte sich um. Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Val! Na, das ist ja mal eine gelungene Überraschung!«
Die Brüder gaben sich die Hand und klopften sich auf die Schulter. Der Arzt spürte, dass er seinen Bruder tatsächlich über alles liebte, aber es gab Tage wie den heutigen, da Lance ihm doch etwas zu stürmisch war. »Du bist der Mann, mit dem ich dringend reden muss«, begann Lance, und dann platzte es schon aus ihm heraus: »Herrgott, was hast du denn angestellt? Du siehst ja zum Fürchten aus!«
»Danke«, entgegnete Valentine. »Du hast dich auch gut gehalten.«
Er suchte sich einen freien Stuhl und ließ sich auf dem Kissen nieder.
»Verdammt, Val«, tadelte sein Bruder, »du bist wieder die ganze Nacht aufgeblieben, nicht wahr? Und hast bedenkenlos deine besonderen Fähigkeiten eingesetzt, gib es zu!«
»Nein, habe ich nicht, verdammt noch mal!«, fiel Valentine ihm ins Wort, ehe Lance seinen üblichen Vortrag halten konnte, den der Arzt heute nicht ertragen hätte. Doch ein Gedanke hielt sich hartnäckig in seinem Kopf. Wann hatte er seine besondere Gabe zum letzten Mal eingesetzt?
Bei Rafe Mortmain ... Der Mann hatte ihn verzweifelt angesehen und sich in seinem Ärmel festgekrallt... Das Bild verschwand ebenso rasch, wie es gekommen war.
»Ich habe mich nicht um Patienten gekümmert, sondern ...«
Sollte er ihm davon berichten, wie der »heilige« Valentine beinahe über ein junges Mädchen hergefallen wäre? »Ich hatte nur wieder eine meiner schlimmen Nächte.« Eigentlich hätte er es dabei bewenden lassen sollen, aber irgendetwas bohrte und drängte in ihm.
Lance nahm ihm die Entscheidung ab: »Man hört ja Erstaunliches von dir. Caleb erzählte, du hättest seinen weißen Hengst gekauft.« »Stimmt. Ja und?«
»Val, dieses Ross hat den Teufel im Leib!« »Und du glaubst, mit so etwas käme ich nicht zurecht?« »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Aber Valentine spürte, dass sein
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