Stachel der Erinnerung
Jessies Körper, Furcht befiel sie. Er war so zornig gewesen. Sie hätte
ihn nicht lieben sollen, sie hätte ihn zwingen müssen, ihr zu sagen, was
geschehen war. Statt dessen hatte sie der mächtigen Anziehungskraft nachgegeben,
die sie nach wie vor für ihn empfand. Sie hatte sich ihm hingegeben, und jetzt
ängstigte sie sich.
Sie
lauschte auf Geräusche aus dem Zimmer nebenan, doch es war unheimlich still. Wo
ist er hingegangen, fragte sie sich. Warum hatte er sie allein gelassen? Sie
hatte ihn noch nie in einer solchen Verfassung gesehen wie am heutigen Abend,
so besorgniserregend außer Kontrolle. Er hatte sie leidenschaftlich verführt,
und dennoch war irgend etwas nicht in Ordnung.
Sie
versuchte sich einzureden, daß sein Zorn nicht auf sie gerichtet war, daß
etwas anderes ihn beschäftigte. Vielleicht war die Besprechung in Beaconsfield
nicht so abgelaufen, wie er sich das gewünscht hatte. Bestimmt ging es nur
darum. Am Morgen würde es ihm schon bessergehen, und er würde sein Temperament
wieder unter Kontrolle haben. Dann wollte sie zu ihm gehen, sie würde mit ihm
reden und die Dinge zwischen ihnen klären.
Jessie
lächelte leicht spöttisch über sich selbst. Sie war noch nie ein Feigling
gewesen, doch wenn es um Matthew ging, war sie unsicher. Sie mußte morgen mit
ihm reden, mußte ihm von ihrem Bruder erzählen und von den Drohungen, die Danny
ausgesprochen hatte. Und sie würde ihm von dem Geld und den Wertsachen
erzählen, die sie ihm gegeben hatte.
Sie mußte
ihm reinen Wein einschenken – sie war seine Frau, und sie schuldete ihm ihre
Ergebenheit. Dennoch machte sie sich Sorgen über seine Reaktion, und sie hatte
auch Angst um die kleine Sarah. Das Kind verstärkte die Gefahr für die Menschen
vom Belmore – das hatte Matthew selbst gesagt. Und jetzt, da Danny erneut
gedroht hatte, war ihr Mann vielleicht so besorgt, daß er das Kind wegschicken
würde. Sie glaubte ei gentlich nicht, daß er das übers Herz bringen würde,
aber sie war sich nicht sicher.
Jessie
schloß die Augen, ihr Herz hämmerte dumpf in ihrer Brust. Morgen würde sie
wissen, was zu tun war. Morgen wäre alles viel klarer. Sie kroch unter die
Seidenlaken und zog sie bis ans Kinn hoch. Ihr Körper prickelte noch von dem
wilden Liebesspiel, ihre Brüste waren noch empfindlich nach seinen
Berührungen. Morgen würde sie ihm alles sagen und herausfinden, was los war.
Jessie
schloß die Augen, doch einschlafen konnte sie nicht.
Ein
Blatt segelte zu
Boden. Im schwachen Licht der Laterne tanzte es zu Gwendolyn Lockharts Füßen,
während sie unter dem Baum herging. In ihrem smaragdgrünen, mit Gold besetzten
Seidenkleid schritt sie langsam über den Gartenweg der Vauxhall-Gärten und
fragte sich, wie spät es wohl sein mochte.
Es war
sowieso höchst erstaunlich, daß sie hier herumspazieren konnte, wenn sie daran
dachte, wie wütend ihre Eltern gewesen waren, als sie aus Belmore
zurückgekehrt war. Glücklicherweise hatte sich Lady Bainbridge einverstanden
erklärt, für sie beim Grafen ein gutes Wort einzulegen. Dadurch war Gwen wieder
einmal der erniedrigenden, brutalen Prügel entgangen, der Lieblingsbestrafung ihres
Vormundes und Stiefvaters. Statt dessen hatte sie jedoch für die nächsten
beiden Wochen Hausarrest – es sei denn, daß ihre Eltern es für nötig hielten,
sie während dieser Zeit zu einer Gesellschaft mitzunehmen.
Was am
heutigen Abend geschehen war. Die wohltätige Organisation, die ihrer Mutter so
am Herzen lag, die Gesellschaft zur Verbesserung der Armut, gab heute abend in
den VauxhallGärten den jährlichen Ball, auf dem vor allem Geld gesammelt
wurde. In diesem Jahr hatte Lady Waring die Organisation des Festes übernommen.
Ihre Mutter
war schon seit Tagen nicht mehr zur Ruhe gekommen. Bis spät in die Nacht
hinein hatte sie an den abschließenden Vorbereitungen gearbeitet. Am gestrigen
Abend hatte sie dann mit ihrem Mann gesprochen.
»Bitte,
Edward, ich flehe dich an – du mußt Gwendolyn erlauben dabeizusein. Es wäre
höchst unpassend, wenn meine einzige Tochter an diesem Abend nicht zugegen
wäre, nachdem ich dieses Ereignis seit fast einem Jahr geplant habe.«
Am Ende
hatte Lord Waring nachgegeben, etwas, das er nur sehr selten tat. Er hatte
zugestimmt, daß sie den Ball besuchen durfte – obwohl Gwen sich eigentlich gar
nichts daraus machte, bei einer weiteren der langweiligen wohltätigen Aufgaben
ihrer Mutter dabeizusein. Doch nun war sie allein in diesem wundervollen
Garten, einem
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