Stachel der Erinnerung
ihrer Lieblingsplätze. Nach dem Eingesperrtsein der letzten Tage
ein Genuß für sie.
Sie seufzte
dankbar, während sie den Hauptweg entlangging, einen breiten, mit Kies
bestreuten Pfad, gesäumt von zwei Reihen hoher Ulmen. Endlich war sie den
wachsamen Augen ihrer Eltern entkommen. Ihre Mutter war so beschäftigt, daß sie
gar nicht bemerkt hatte, wie Gwen sich weggestohlen hatte. Und Lord Waring
kümmerte sich intensiv um die junge Witwe, Lady Burton, die er in letzter Zeit
umbalzte.
Gwen bog
vom Hauptweg ab, der zu einem gotischen Tempel mit einem Springbrunnen führte.
Sie lief weiter auf einem schmalen, wenig begangenen Weg, auf dem sie dem
Gesang der Nachtigall lauschte und den riesigen silbernen Mond beobachtete.
Einen
Augenblick lang erinnerte sie sich an eine andere Nacht, an einen anderen
Mitternachtsspaziergang im Garten, der zu einem hauchzarten Kuß geführt hatte.
Seit ihrer Rückkehr in die Stadt hatte sie St. Cere nicht wiedergesehen, doch
das hatte sie auch nicht erwartet. Ihr Stiefvater würde ihm niemals erlauben,
sie zu besuchen, und das wußte der Vicomte. Gwen war nicht einmal sicher, ob er
sie überhaupt wiedersehen wollte.
Bei dem
Gedanken an ihn lächelte sie. Er sah so unwahrscheinlich gut aus, daß allein
der Gedanke an ihn genügte, um Schmetterlinge durch ihren Bauch flattern und
ihr Herz schneller schlagen zu lassen. Hätte sie nicht plötzlich Schritte
hinter sich gehört, sie hätte ihre Träumerei fortgesetzt, hätte an den
schnellen, sanften Kuß gedacht. Statt dessen wandte sie sich um – und
erstarrte.
»Hört nicht
auf zu lächeln, Lady Gwen.« Erstaunlicherweise war diese Stimme keine
Einbildung – sondern kam höchst lebendig von dem großen, dunklen Mann selbst.
»Ihr habt ein bezauberndes Lächeln«, gestand er ihr. »Ich habe mich sehr darauf
gefreut, es wieder einmal zu sehen.«
Ihre Knie
wurden weich. »Lord St. Cere ...«
Er
verbeugte sich galant. »Zu Euren Diensten, Mylady.«
Das Herz
schlug ihr bis zum Hals, so laut, daß sie glaubte, er müsse es hören. »Was ...
was tut Ihr hier?«
»Ich bin
gekommen, um Euch wiederzusehen.« Er lächelte, als er ihren ungläubigen
Gesichtsausdruck sah. »Ich gebe oft Geld für die wohltätige Organisation Eurer
Mutter für die Armen. Ich wußte von dem Fest heute abend, und ich wußte auch,
daß Lady Waring die Leitung des Festes hatte. Deshalb hoffte ich, daß Ihr
hiersein würdet.«
Gwen war
sprachlos. Sie konnte ihren Blick nicht von seinem Mund losreißen. Die
Mundwinkel hatten sich amüsiert hochgezogen, seine vollen, festen Lippen
sprachen mehr von Verführung als seine Worte.
»Ich habe
Euch schon den ganzen Abend beobachtet«, verriet er ihr. »Eure Langeweile
konntet Ihr kaum verbergen. Ich nahm an, daß Ihr, angesichts Eurer früheren
Kühnheit, früher oder später einen Weg finden würdet zu entkommen.«
Sie hätte
bei seiner Anspielung eigentlich böse werden sollen, doch statt dessen lächelte
sie nur. »Ihr habt recht, Mylord. Ich habe von Anfang an an nichts anderes
gedacht. In solchen Fällen preise ich Gott für den Wohltätigkeitswahn meiner
Mutter und die unersättliche Lust meines Stiefvaters.«
St. Ceres
Blick huschte über die Rundungen ihrer Brüste, und seine Stirn war nachdenklich
gerunzelt. »Da ich Lord Waring kenne, bin ich nicht sicher, daß dies ein Segen
ist.«
Gwen
vermied es, ihn anzusehen, die Wendung in der Unterhaltung gefiel ihr nicht.
»Nein ... ich auch nicht.« Sie sah ihn an und zwang sich zu einem übertrieben
strahlenden Lächeln. »Sie werden
mir beide böse sein, wenn ich zu lange wegbleibe. Und da wir beide der gleichen
Meinung sind und uns darüber freuen, sie los zu sein, sollten wir die kurze
Zeit, die uns bleibt, nutzen.«
Die
wundervollen Lippen des Vicomte verzogen sich zu einem Lächeln. Kleine
Grübchen bildeten sich dabei in jeder Seite seiner Wangen. »Genau das habe ich
auch gedacht.« Er reichte ihr einen Arm, und Gwen legte ihre Hand darauf. Sie
spürte mit einer kleinen Gänsehaut die weiche Wolle seines Rocks unter ihren
Fingern. Sittsam sprachen sie über die Schönheit des Mondes und vom Wetter, danach
von ihrer Schriftstellerei und von seinem Lieblingssport. Pferderennen waren
seine Leidenschaft.
»Ich habe
den Renntag in Epsom Downs seit mehr als zwanzig Jahren nicht verpaßt, nicht
mehr, seit ich noch ein Junge war.«
»Ich liebe
es zu reiten. Ich würde schrecklich gern eines Tages ein eigenes Pferd haben,
ein herrliches, temperamentvolles
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