Stachel der Erinnerung
Taschen leerte, wenn er
bewußtlos in einer engen Gasse lag. Sie war ein ganzes Stück älter gewesen als
Matt, der harte Zug um ihre Augen war für seinen jugendlichen Geschmack nichts
gewesen. Obwohl – ihre Brüste und ihre Hüften waren wohlgerundet, und er hatte
nach Wochen auf See dringend eine Frau gebraucht. Doch nicht diese.
Vielleicht
war es so, daß nichts, was Jessie sagte oder tat, heute realer war als damals.
Vielleicht war diese warme, liebevolle Frau, die sein Vater so sehr schätzte,
nur eine Illusion.
Das war
möglich. Sehr gut möglich sogar.
Matt lehnte
sich in dem Sitz der Kutsche zurück und betrachtete seine Karten und das
Mädchen ihm gegenüber. Früher oder später, so schwor er sich, würde er die
Wahrheit über Jessie Fox herausfinden.
7
Am Ende war es Papa Reggie, der gewann. Der
Marquis legte Jessica ein kostbares Perlenhalsband um, mit winzigen Diamanten
besetzt, das sie der Sammlung exquisiter Belmore-Erbstücke hinzufügte, die er
ihr über die Jahre hinweg geschenkt hatte. Dann bestand er darauf, daß sie mit
Viola zum Einkaufen ging, all den Flitterkram, den eine junge Dame ihres Alters
brauchen würde.
Er hatte
ihre Börse mit Goldsovereigns gefüllt, für Kleinigkeiten, hatte er gemeint,
und er hatte ihr gesagt, daß sie alles, was sie einkaufen wollte, auf seine
Rechnung schreiben lassen sollte. Dann hatte er Matthew gezwungen, die beiden
zu begleiten. Auch er hatte natürlich Geld bei sich. Offensichtlich ahnte er,
daß sie fast jeden einzelnen Penny ihres Monatsgeldes hortete.
Was ist,
wenn etwas Schreckliches passiert? dachte sie immer, und die Erinnerungen an
die grauenvollen Nächte, nachdem sie das Gasthaus damals verlassen hatte, waren
unverändert lebhaft in ihrer Erinnerung, Nächte, in denen sie zusammengekauert
in eiskalten Heuschobern gehockt hatte und in denen ihr Magen vor Hunger
knurrte.
Glücklicherweise
hatte Matthew die beiden dann bei ihrem Einkaufsbummel auf der Regent Street
sich selbst überlassen.
»Ich werde
in zwei Stunden zurück sein«, hatte er erklärt. »Ich lasse Euch den Wagen zu
Eurer Verfügung, wir treffen uns dann um genau vier Uhr vor L. T. Pivers,
Parfüm und Handschuhe.« Er warf ihr einen strengen Blick zu. »Noch eines, Mistress
Fox. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Ihr Euch von Schwierigkeiten
fernhalten würdet. Geht nirgendwo sonst hin, bleibt in dieser Straße hier.«
Sie zuckte
hoch, doch dann salutierte sie spöttisch. »Aye, aye, Kapitän.«
Ein
belustigtes Lächeln umspielte seinen Mund. »Benehmt Euch, Jessie. Wir sehen uns
dann in zwei Stunden.«
Sie hatte
ihm nachgesehen, sie konnte die Blicke nicht losreißen von seiner
hochgewachsenen Gestalt mit dem militärisch geraden Rücken, den breiten
Schultern, den unanständig schmalen Hüften und den langen, kräftigen,
muskulösen Schenkeln.
»Nun,
Liebes, wohin wollen wir als nächstes gehen?« Violas Worte rissen sie
schließlich aus ihren Gedanken.
Jessie
blickte von ihrer Freundin zu den glänzenden Kutschen, die an ihnen
vorüberrollten, den eleganten Geschäften mit den kleinen Fenstern, den Damen
und Herren der Adelsgesellschaft, die in ihrer teuren Kleidung
vorüberschlenderten.
»Warum
gehen wir nicht einfach ein Stück? Wer weiß, was wir noch alles zu sehen
bekommen.« Sie gingen die Straße entlang und betraten ein Geschäft nach dem
anderen. Jessie war nicht mehr verlegen, Matthew hatte ihr diskret gezeigt, wie
sie sich zu verhalten hatte. In Fugates Laden für Schirme kaufte sie einen
kleinen, mit Spitzen besetzten himmelblauen Sonnenschirm, den sie einfach haben
mußte. Doch als sie dem Verkäufer dann das Geld dafür reichte, wurden ihre
Hände ein wenig feucht.
Sie gingen
vorbei an Mary the Fruitiers, an Wedgwoods Porzellanladen, an einem Uhrmacher
und einem Kurzwarenladen. Jessie blieb vor einem winzigen Geschäft stehen, das
von zwei großen Läden eingerahmt wurde. Es war eines der wenigen Geschäfte,
die ihre Waren im Fenster ausstellten. Die restlichen Läden hielten sich für
so etwas viel für zu vornehm.
Jessie
betrachtete das Fenster näher. »Schau mal, Vi, hast du schon je etwas so
Bezauberndes gesehen?« Es war ein Geschäft, das sich auf Dinge für Kinder
spezialisiert hatte. Ein winziges Paar Regenstiefel stand in dem Fenster,
daneben lagen ein weißes Taufkleid für ein Baby und eine wunderschöne bestickte
gelbe Decke aus Satin.
»Du hast
schon immer Kinder geliebt, solange ich mich erinnern kann.« Viola warf ihr
einen
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