Stachel der Erinnerung
aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie bahnte sich einen Weg
durch die Menschenmenge und ging nach draußen.
Im Schatten
am Rande der Terrasse blieb sie stehen. Sie zog ihre Handschuhe aus und legte
den Kopf zurück, um die Sterne zu beobachten. Es hatte zuvor geregnet, und
jetzt war die Luft rein, und es roch nach feuchter Erde. Kleine Wassertropfen
hingen noch an den Blumen und der Buchsbaumhecke hinter dem Geländer der
Terrasse. Wie zarte Kristalle glänzten sie im Licht der Fackeln.
»Ihr
solltet nicht hier draußen sein, daß wißt Ihr doch. Wenigstens nicht allein.«
Beim Klang
der heiseren männlichen Stimme lief ein Schauer von Abneigung durch Jessies
Körper. Adam Harcourt, Vicomte St. Cere. Sie hatte mit dem dunkelhaarigen Mann
nur einmal getanzt und bei einigen wenigen anderen Gelegenheiten ein paar
knappe Worte mit ihm gewechselt.
»Guten
Abend, Mylord.« Unbewußt machte Jessie einen Schritt von ihm weg. Er hatte
etwas an sich, das sie nervös machte, eine gewisse Grobheit, ein mühsam
gezügeltes Temperament, das sie ein wenig ängstigte, wann immer sie in sein
hartes Gesicht sah. »Ich hatte nicht die Absicht, hier draußen zu bleiben. Ich
brauchte ... ich wollte nur einen Augenblick allein sein.« Noch einmal blickte
sie zu den Sternen, sie waren wie eine Decke voller Juwelen am Himmel, der so
schwarz war wie das Haar des Vicomte. »Manchmal sind die vielen Menschen etwas
mehr, als ich ...« Sie wurde rot wegen der Worte, die sie beinahe ausgesprochen
hätte.
»Etwas
mehr, als Ihr verdauen könnt?« beendete er mit zynischer Stimme den Satz für
sie. »Ich hatte gerade den gleichen Gedanken.«
Er trat
näher, doch diesmal blieb Jessie stehen.
»Das ist
nicht ... das ist nicht das, was ich meinte.«
»Nicht?«
Sein sinnlicher Mund zuckte an einer Seite leicht hoch. »Ich denke, das ist
genau das, was Ihr sagen wolltet.«
Trotz allem
verzog sich Jessies Mund zu einem Lächeln. Es war tatsächlich die Wahrheit.
»Ja, ich glaube schon.«
Er sah sie
unter schweren Lidern mit dichten schwarzen Wimpern an. »Ich bleibe so lange in
der Stadt, bis mich diese Heuchelei hier zu sehr anekelt. Dann ziehe ich mich
nach Harcourt zurück. Das richtet mich für eine Weile wieder auf. Doch dann
werde ich ruhelos, denke an all die Freuden, die mich in London erwarten, und
kehre zurück, um meine endlosen Runden mit Spielen und Ausschweifungen wieder
aufzunehmen.«
Jessie war
überrascht, daß er das so deutlich aussprach.
»Habe ich
Euch schockiert, Miss Fox? Irgendwie habe ich geglaubt, daß das nicht möglich
wäre.«
Leise
Furcht beschlich sie. Wußte er etwas von ihrer Vergangenheit? Kannte er die
Wahrheit? »Warum ... warum denkt Ihr so etwas?«
Er zuckte
mit Schultern, die beinahe so breit waren wie die von Matthew. Er war genauso
groß wie er, und auf eine etwas andere, dunklere und schwermütigere Art sah er
fast genauso gut aus wie er.
»Weil sich
eine gewisse Weisheit in Eurem Gesicht spiegelt. Eine Weisheit, die daher
rührt, daß man die Herausforderungen des Lebens annimmt und sie auch irgendwie
meistert. Man fragt sich, was wohl geschehen sein mag, daß Ihr einen solchen
Ausdruck in Euren Augen habt. Es macht neugierig auf die Geheimnisse, die Ihr
in Euch bewahrt.«
Jessie zog
scharf den Atem ein. »Ich ... ich habe keine Geheimnisse.«
»Nicht?«
»Natürlich
nicht.« Sie drehte die Handschuhe in ihren Händen, doch dann riß sie sich
zusammen. Ihr gefiel der wissende Blick in dem harten Gesicht des Vicomte
nicht. »Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich muß wieder ins
Haus.« Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch er streckte die Hand aus und
hielt ihren Arm fest. Sie mußte direkt vor seinem großen, starken Körper
stehenbleiben. Wenn er den Kopf senkt, kann er mich küssen, dachte sie
verzweifelt, und einen Augenblick lang glaubte sie auch, daß er es tun würde.
Angst stieg in ihr auf, gemischt mit dem flüchtigen Drang, das Unbekannte zu
erforschen, zu sehen, ob es auch einem anderen Mann gelingen würde, die Gefühle
in ihr zu wecken, die sie bei Matthews Kuß überwältigt hatten.
Lord
Stricklands Stimme ertönte, als hätte sie ihn mit ihren Gedanken
herbeigezaubert. »Also ... Mistress Fox ... endlich habe ich Euch gefunden.«
Matthew stand im Licht einer Fackel, ein Stück von ihr entfernt, sein gesamter
Körper drückte Zorn aus.
»Ich ...
ich wollte gerade hereinkommen, Mylord.«
Adam
Harcourts Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er ließ ihren Arm
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