Stachel der Erinnerung
von sich. »Ich muß verrückt
geworden sein«, murmelte er, und dann noch ein paar Worte, die sie nicht
verstand. Mit der Hand fuhr er sich durch sein goldblondes Haar. Nur schwach
bemerkte Jessie, daß er zitterte.
»Matthew
...« Etwas anderes zu sagen fiel ihr nicht ein. Sie preßte eine Hand auf ihre
geschwollenen Lippen und versuchte, die glühenden Schauer, die durch ihren
Körper rannen, zu ignorieren.
Er bückte
sich und hob ihre Handschuhe auf, dann reckte er sich zu seiner vollen Größe,
nahm Haltung an und reichte ihr die Handschuhe.
»Ich
entschuldige mich, Miss Fox. Es war mein Fehler, nicht der Eure. Bitte, nehmt
mein Bedauern an ... und mein ernsthaftes Versprechen, daß so etwas nicht mehr
geschehen wird.«
»Matthew
...«, flüsterte sie bittend. Sie wollte nicht, daß es ihm leid tat. Sie wollte
nicht, daß er bedauerte. Sie wollte, daß er sie noch einmal so küßte.
»Hört auf,
Jessie. Verdammt – könnt Ihr denn nicht sehen, wie falsch das ist?«
Sie
schüttelte den Kopf. »Ich kann überhaupt nichts mehr sehen.« Tränen brannten
in ihren Augen. Lieber Gott, das durfte er nicht merken. »Ich wollte, daß Ihr
mich küßt – mehr weiß ich nicht. Und wenn das falsch ist, dann bin ich es, die
sich entschuldigen sollte.« Sie wandte sich ab und lief ins Haus. Verzweifelt
versuchte sie, die Tränen zurückzudrängen.
Hinter ihr
fluchte Matthew leise, doch er machte keine Anstalten, ihr zu folgen.
Jessie sprach
ein leises Dankgebet, denn die erste Person, die sie sah, als sie ins Haus
eilte, war Lady Caroline Winston.
Gütiger,
lieber Gott. Erniedrigt,
hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühl und einer schmerzlichen Sehnsucht
nach Matthew, lief sie in die entgegengesetzte Richtung, in den Ruheraum der
Damen im ersten Stock.
Sie fragte
sich, ob Matthew diesen Kuß wohl auch bedauert hätte, wenn er ihn mit Lady
Caroline erlebt hätte.
Henry Winston, Graf von Landsdowne, legte
Matt freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Ich hatte gehofft, Euch
schon viel früher zu sehen, mein Junge, doch wenn man bedenkt, wie viele
Monate Ihr auf See verbracht habt, dann kann man sich vorstellen, welche
Unmengen von Dingen Ihr zu erledigen habt.«
Der Graf
war ein kleiner, untersetzter Mann mit breitem Oberkörper. Ein Kranz grauen
Haares umrahmte seinen kahlen Kopf. Es
war offensichtlich, daß Lady Caroline ihre schlanke Gestalt der mütterlichen
Seite ihrer Familie zu verdanken hatte.
»Es tut mir
leid, daß ich Euch nicht in Winston House besuchen konnte«, entschuldigte sich
Matt. »Ich hatte keine Ahnung, daß mein Vater plante, einige Zeit in der Stadt
zu verbringen.« Sie standen im Salon des Stadthauses der Landsdownes am
Berkeley Square. Matthew war seit ein paar Stunden zu Besuch bei dem Grafen,
Caroline und ihrer Mutter. Sie hatten sich über seine Zeit auf See unterhalten,
und Matthew hatte höflich mit Caroline und Lady Landsdowne gesprochen.
Carolines Mutter hatte sich nach einiger Zeit entschuldigt, weil sie Freunde
besuchen wollte. Jetzt wollte sich auch der Graf zurückziehen, um ihm und
Caroline einige ungestörte Augenblicke miteinander zu gewähren.
So
ungestört, wie das möglich war, bei den weit offenen Türen des Salons und dem
Haus voller Dienstboten.
»Caroline,
meine Liebe?« Der Graf wandte sich mit liebevollem Blick an seine Tochter.
»Ja,
Vater?«
»Ich
überlasse es dir, dafür zu sorgen, daß unser Gast angemessen bedient wird.«
Caroline
lächelte. »Ja, Vater.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange, schüttelte Matts
Hand und verließ dann den Salon.
Matt setzte
sich neben Caroline auf die Sitzbank. »Ich nehme an, ungestörter zu sein wird
man uns nicht erlauben, solange wir noch nicht offiziell verlobt sind.« Und
viel mehr würden sie denn auch nicht haben bis zur Eheschließung. Er lächelte
sie an. »Ist Euch eigentlich bewußt, daß ich Euch noch nicht einmal geküßt
habe?«
Sie lachte
leise, ein süßes, feminines Lachen. »Das ist nicht wahr, Mylord. Ihr habt mich
schon einmal geküßt, als wir noch Kinder waren – draußen, hinter der Hecke im
Garten.« Sie war ein wenig unsicher gewesen, als sie ihn begrüßt hatte, nervös
auf eine Art, die er nicht so recht begriff. Doch jetzt, als er ihr seine
uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte, hatte sie ihr freundliches Wesen
wiedergefunden.
Matthew
erinnerte sich an den Tag, von dem sie sprach. »Ich habe Euch geküßt?
Wirklich?«
»Ja, das
habt Ihr. Ihr habt gesagt, Ihr hättet gesehen,
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