Stachel der Erinnerung
jemals die strengen Verhaltensmaßregeln würde
akzeptieren können, die die Mitglieder der Adelsgesellschaft einander
auferlegt hatten.
All der
Reichtum, all die Juwelen und die eleganten Kleider verlangten einen
schrecklichen Preis, hatte sie festgestellt. Jede ihrer Bewegungen, jedes Wort,
das sie sprach, wurden daraufhin untersucht, ob es auch anständig war. Selbst
das Tanzen, das sie so liebte, hatte eigene, strenge Regeln, die nicht gebrochen
werden durften. Sie sehnte sich nach der Freiheit ihrer Jugend, nach den
friedlichen Tagen auf Belmore, sie vermißte die Kinder, die nichts anderes von
ihr erwartet hatten als ein warmes, liebevolles Lächeln und ein kleines Lob
für ihre Anstrengungen.
Und dann
war da natürlich noch Matthew.
Er war hier
mit Lady Caroline. Die meiste Zeit verbrachte er in ihrer Gesellschaft. Es war
für alle offensichtlich, daß er beabsichtigte, sie zu heiraten. Und dennoch
gab es Zeiten, da fühlte Jessie, daß er sie beobachtete, daß er jede ihrer Bewegungen
verfolgte. Während des Tages ging er ihr, so gut er konnte, aus dem Weg, doch
am Abend ... am Abend, wenn er glaubte, daß sie es nicht bemerkte, waren seine
Blicke so eindringlich, als würde er sie berühren.
Während der
Tage, die sie hier verbracht hatten, war die Anzahl ihrer Bewerber gewachsen.
Jeremy Codrington, Herzog von Milton, hatte mit ihrem Onkel gesprochen. So
erstaunlich es war, es sah ganz so aus, als wolle er ihr die Ehe anbieten.
Jessie Fox,
verheiratet mit einem Herzog. Es war schon beinahe komisch.
Papa Reggie
fand das gar nicht. Er und Lady Bainbridge waren außer sich vor Freude, sie
strahlten zufrieden und wurden immer aufgeregter, je deutlicher die Absichten
des Herzogs sich abzeichneten.
Für den
heutigen Abend war ein Kostümball geplant. Jessie würde sich als Göttin
Aphrodite verkleiden. Ihr Kleid hatte Madame Dumont entworfen, die begehrteste
Modistin in London. Das Kleid aus schneeweißer Seide, an den Hüften und unter
der Brust in Falten gelegt und an den Seiten geschlitzt, damit man einen Blick
auf ihre eleganten Fußgelenke werfen konnte, schmiegte sich eng an ihren
Körper. Eine Brosche aus Topasen und Diamanten hielt den Stoff an einer
Schulter, die andere Schulter war nackt. Sie würde Diamanten in den Haaren
tragen und goldene Sandalen an den Füßen.
Es war ein
sehr gewagtes Kleid, und Jessie war überrascht gewesen, daß Lady Bainbridge
damit einverstanden war. Immerhin, es sollte ein Kostümfest werden. Sie würde
eine goldene Maske tragen, die ihr Gesicht verhüllte. Im übrigen waren vermutlich
alle wagemutig bei der Auswahl ihrer Kostüme.
Daran
dachte Jessie jetzt, während sie einen letzten sehnsüchtigen Blick über die
malerische Landschaft warf. Dann wandte sie sich um und ging den Weg zurück zu
dem riesigen, palastartigen Haus. Sie wollte sich noch ein wenig vor dem
anstrengenden Abend ausruhen. Als sie die Terrasse erreicht hatte, begegneten
ihr Matthew und Lady Caroline.
»Oh ... ich
... ich meine, guten Tag, Lady Caroline ... Lord Strickland.«
Matthew
lächelte sie unverbindlich an. Sie erinnerte sich jedoch unvermittelt an das
Gefühl seiner Lippen auf den ihren, und heiße Wärme stieg in ihr auf.
»Guten Tag,
Miss Fox«, sagte er.
»Ich ...
ich habe mir den Garten angesehen.«
»Ja ...«
Caroline betrachtete das schlichte, rosafarbene Musselinkleid, das Jessie
trug, und ihr Haar, das offen über ihre Schultern fiel. »Der Garten ist
wunderschön um diese Jahreszeit.«
Matthew
blickte über Jessies Schulter zu dem Weg, über den sie gekommen war, als wolle
er prüfen, ob sie allein gewesen war. St. Cere war auch in Benhamwood, doch er
war mit einigen der Männer auf die Jagd gegangen. Außerdem hatte er sich mit
ihr nur mit zurückhaltender Höflichkeit unterhalten.
Jessie
musterte Lord Strickland. Ihr entging nicht, daß Carolines Hand
besitzergreifend auf seinem Arm lag, und die Wärme, die in ihr aufgestiegen
war, ballte sich zu einem harten Knoten in ihrem Magen.
»Ich wollte
gerade ins Haus gehen«, erklärte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Papa
Reggie wird sich schon fragen, wo ich bin. Ich hoffe, Ihr genießt Euren
Spaziergang.«
»Danke«,
antwortete Caroline.
Matthew
sagte nichts, doch in seinen Augen lag ein eigenartiger Ausdruck, dunkel und
unergründlich, den Jessie in letzter Zeit so oft an ihm beobachtet hatte, den
sie sich aber nicht erklären konnte. Vielleicht war er böse auf sie, weil sie
allein spazierengegangen war, etwas,
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