Stachel der Erinnerung
das sie oft tat. Vielleicht erwartete er
auch, daß sie sich förmlicher kleidete, oder er war noch immer verärgert
darüber, daß er sie auf der Terrasse geküßt hatte.
Was auch
immer seine Gründe waren, es machte Jessie nichts aus. Matthew hatte seine Wahl
getroffen, seine Zukunft hielt er fest in den Händen. Jessie Fox hatte darin
keinen Platz. Sie schluckte den Schmerz hinunter, der bei diesem Gedanken in
ihr aufstieg, dann ging sie an den beiden vorbei ins Haus.
10
»Du
siehst hinreißend
aus, meine Liebe.« Papa Reggie zwinkerte ihr zu. »Stimmt das, Corney?«
Lady
Bainbridge nickte zufrieden. Sie war als Madame de Pompadour verkleidet. Ihr
graumeliertes Haar war bedeckt mit einer hochaufgetürmten silbernen Perücke,
auf der ein kleines Segelschiff thronte. Sie lächelte Jessie anerkennend an. »Sehr
richtig, Reggie, mein Lieber.«
Dann legte
sie den Kopf zur Seite und betrachtete Jessies griechisches Kostüm. »Elegant
und anmutig. Wagemutig, aber nicht skandalös. Sie werden sie alle bewundern,
weil sie das Original verkörpert.«
Jessie
lächelte und wünschte, daß sie sich auch so fühlte. Aber eventuell hatte Lady
Bainbridge ja recht – in ganz Benhamwood war niemand, der so war wie sie.
Sie
verließen alle zusammen ihre Gästezimmer im dritten Stock und schritten zu dem
Ballsaal, der im zweiten Stock des Hauses lag. Die Gräfin ging neben Papa
Reggie, der sich als Henry V. verkleidet hatte. Jessie betrachtete ihn
bewundernd. Auch wenn er während seiner Krankheit an Gewicht verloren hatte, so
war der Marquis von Belmore mit seiner Löwenmähne und seiner imposanten Gestalt
ein sehr beeindruckender König.
Matthew war
nirgendwo zu sehen. Er würde am übernächsten Tag abreisen. Zunächst würde er
nach Belmore zurückkehren, um seine Sachen zu packen, und dann von dort aus
nach Portsmouth zu seinem Schiff reiten. Jessies Herz war schwer, wenn sie
daran dachte, aber sicher war es besser so. Wenigstens konnte sie dann
beginnen, ihn zu vergessen.
Im zweiten
Stock angekommen, öffnete ihnen ein Lakai mit einer grauen Perücke in einer
blau-goldenen Livree die vergoldeten Türen. Der üppig mit Spiegeln
ausgestattete Ballsaal war in bunten Farben dekoriert, er sollte einen
Jahrmarkt darstellen. Unter riesigen Sträußen von roten und gelben Rosen
betraten sie den Saal.
Der Ball
hatte bereits begonnen. Graf von Pickering, gekleidet als Julius Cäsar, bat
Jessie um einen Tanz, und danach schien die Legion ihrer Bewunderer nicht
abzureißen. Der Herzog von Milton überschüttete sie mit seiner Aufmerksamkeit,
und sogar Adam Harcourt bat sie um einen Tanz.
Es war ein
Walzer, und Pickering riskierte Kritik, weil er zugab, daß er Walzer liebte.
Theoretisch wußte Jessie, wie dieser Tanz getanzt wurde, doch da die adlige
Gesellschaft den Walzer so überaus skandalös fand, hatte sie nie die
Gelegenheit gehabt, ihn zu tanzen. Sie sollte eigentlich die Aufforderung zu
diesem Tanz ablehnen, das wußte sie, ganz besonders bei einem Partner, der
einen so schlechten Ruf hatte wie St. Cere. Doch die Aufregung, einen so
verrufenen Tanz wie den Walzer tanzen zu können, ließ Jessie alle Vorsicht
vergessen.
Im Gedränge
des Ballsaals konnte sie St. Cere nirgendwo entdecken, doch dann fühlte sie,
wie eine Hand nach der ihren griff, fest und sicher, und irgendwie bekannt. Als
sie sich umwandte, stand nicht etwa St. Cere hinter ihr, sondern Lord
Strickland, dessen Augen sie aus seinem sonnengebräunten Gesicht anblitzten.
»Es ist
doch nur ein Tanz«, verteidigte sie sich, weil sie sicher war, daß er die
Absicht hatte, sie davon abzuhalten. »Ich möchte ihn nur einmal ausprobieren.«
Matthew
verblüffte sie, indem er sie anlächelte. Kleine Lachfältchen bildeten sich in
seinen Augenwinkeln. »Das sollt Ihr auch, Miss Fox ... wenn Ihr nichts dagegen
habt, diesen Tanz mit mir zu tanzen.«
Freudige
Erregung ergriff Jessie. Sie lächelte, als er einen Arm um ihre Taille legte
und sie auf die mit rosafarbenem Marmor ausgelegte Tanzfläche zog. Sie fühlte
seine warme Hand in ihrem Rücken, seine Schenkel, die sich gegen ihre drängten,
als die Musik lauter wurde und dann in den Walzertakt überging.
Seine Augen
ruhten auf ihrem Gesicht, seine Blicke hielten die ihren gefangen. Er trug die
blauweiße Uniform eines Kapitäns der Marine Seiner Majestät. Die goldenen
Epauletten auf seinen Schultern glänzten in der gleichen Farbe wie sein Haar.
»Aphrodite.
Sehr passend, würde ich sagen. Gefällt Euch der
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