Stachel der Erinnerung
sich
zu einem Lächeln. Das war typisch Gwen. »Du siehst auch bezaubernd aus. Ich bin
so froh, daß du hier bist. Ohne dich könnte ich es unmöglich schaffen.«
Die Mädchen
trugen alle blaue Seidenkleider mit hoher Taille, verziert mit den gleichen
silbernen Fäden wie Jessies Kleid. Jeremys Cousinen machten ihr begeisterte
Komplimente und beglückwünschten sie. Sie bewunderten ihr Kleid und ihr Haar,
bis Lady Bainbridge sie zum Schweigen brachte.
»Es ist
Zeit, daß wir losgehen«, wies die gräfliche Witwe sie zurecht. »Dort drinnen
harrt ein nervöser junger Mann auf uns. Er kann es kaum erwarten, seine Braut
zu sehen. Ich denke, er hat mittlerweile lange genug geschmachtet.«
Danach
schien sich alles in einem eigenartigen, etwas verworrenen Ablauf abzuspulen.
Entweder ging es so schnell, daß Jessie es kaum mitbekam, oder so langsam, daß
jeder Augenblick eine Ewigkeit zu dauern schien.
Andere
Lakaien öffneten die Haupttüren, die in die Kathedrale führten. Zu den
rauschenden Tönen der mächtigen Orgel begannen die Mädchen langsam vor ihr her
durch den Mittelgang der Kirche zu schreiten. Über ihren Köpfen strahlten unzählige
Kronleuchter mit Kerzen hoch unter der Decke, und an den Wänden flackerten
Kerzen in silbernen Kandelabern.
Der Duft
von Blumen stieg Jessie in die Nase. Lilien, dachte sie vage, als sie neben
Papa Reggie an der Schwelle der Kirche stand. Dann entdeckte sie die
langstieligen Blumen vorne in der Kirche, riesige Vasen aus massivem Silber
waren verschwenderisch damit gefüllt. Den ganzen Mittelgang entlang warf der
sanfte gelbe Schein von Kerzen flackernde Schatten auf die Menschen, die sich
in den hölzernen Bänken drängten.
Aus den
Augenwinkeln erkannte Jessie einige der Gesichter: Lord Pickering, der Herzog
von Chester und seine Frau, Lady Dartmoor saß neben Lord und Lady Waring,
Gräfin Fielding und Baron Densmore. Sie sah auch noch andere bekannte Gesichter,
doch sie alle verschwammen vor ihren Augen, nur Caroline Winston erkannte sie
noch, und deren Lächeln, so fand Jessie, sah erleichtert aus.
Das
nächste, was sie sah, war das Gesicht ihres Bräutigams mit dem sandfarbenen
Haar.
Sie konnte
sich später nicht mehr an den Augenblick erinnern, als er ihre Hand gefaßt
hatte. In einem Augenblick stand sie noch neben Papa Reggie, im nächsten schon
neben dem Herzog.
Die Andacht
war lange und ermüdend. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, was alles gesagt
wurde, sie wußte nur, daß sie mehrere Male gekniet hatte und daß der schlanke
junge Mann neben ihr ihr wieder auf die Füße geholfen hatte. Der Chor sang auf
der Empore wunderschöne Lieder in lateinischer Sprache.
Am Altar
stand der Erzbischof, ein großer, hagerer, imposanter Mann, der noch
beeindruckender wirkte in seiner schimmernden goldenen Robe. Er sprach jetzt
zu ihnen und erflehte Gottes Segen für sie.
»Eine Ehe
ist ein ehrenwertes und heiliges Gut«, erklärte er. »Sie ist von Gott
eingesetzt, geheiligt und geehrt durch Christi Anwesenheit bei der Hochzeit zu
Kana in Galiläa und vom Heiligen Paulus verglichen worden mit der symbolischen
Union, die zwischen Christus und seiner Kirche besteht.«
Jessie
versuchte, seine Worte in sich aufzunehmen, doch ihre Gedanken schweiften ab.
Sie fühlte sich schwach, und ihr war ungewöhnlich heiß. Der Geruch von Wachs
und der süße Duft der Blumen benebelten sie. Ihr Herz dröhnte dumpf. Es fiel
ihr schwer, sich zu konzentrieren, es fiel ihr sogar schwer zu atmen.
»In diese
heilige Gemeinsamkeit«, hörte sie die Stimme des Erzbischofs, »wünschen diese
beiden Menschen einzutreten. Deshalb, wenn irgendein Mensch einen gerechten
Grund hat, warum diese beiden nicht nach dem Gesetz vereint werden sollen, so
möge er jetzt sprechen oder für immer Frieden geben.«
Einen
langen, atemlosen Augenblick lang betete Jessie insgeheim um Erlösung; doch
kein weißer Ritter erschien, um sie zu retten. Sie blinzelte, und der Moment
war vorüber. Hinter ihren Schläfen hämmerte der Schmerz, in ihren Ohren summte
es.
Der
Erzbischof sprach eintönig seine Worte, und die Zeremonie ging weiter. »Lasset
uns beten«, sagte er, und Jessie senkte den Kopf.
Ihr Herz
schlug immer sclmeller, in einem eigenartigen, unregelmäßigen Rhythmus. Ihre
Finger, die der junge Herzog in seiner Hand hielt, bebten. Als sie ihm einen
schnellen Blick zuwarf, sah sie den Ausdruck, den sie auch schon zuvor an ihm
bemerkt hatte: Er sah aus wie ein andächtiger Schuljunge, der ein
Weitere Kostenlose Bücher