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Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis

Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis

Titel: Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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fallen und mich um Vergebung anflehen. Und letztendlich ging es hier nicht um Jim und mich. Letztendlich ging es um den Jungen.
    Jim musste geahnt haben, was ich dachte. »Ich bringe dich zu ihm.«
    Damit hatte sich die Sache. Als wir an den Gestaltwandlern vorübergingen, blieb Jim stehen, sah sie an und sagte: »Sie ist mit im Boot.«
    Ich folgte ihm den schummrig beleuchteten Korridor und eine wackelige Treppe hinab. Die Luft hier roch muffig. Die Treppenstufen knarrten protestierend unter unseren Füßen. Das hier war keins der üblichen Büros des Rudels, zumindest erkannte ich es nicht wieder. Jims Miene wurde mit jedem Schritt grimmiger.
    Ich war immer noch stinksauer. »Welche Art von Gestaltwandler hat eigentlich orangefarbenes Fell?«
    »Ein Werdingo.«
    Jetzt konnte ich beruhigt sterben, denn jetzt hatte ich wirklich alles gesehen.
    Am Fuß der Treppe kamen wir an eine schwere Tür. Jim blieb davor stehen. Sein Blick bohrte sich in diese Tür, mit einem Hass, der Todfeinden vorbehalten war.
    »Sie haben ihn gebrochen«, sagte Jim. »Sie haben den Jungen gebrochen. Selbst wenn er überlebt, wird er nie wieder der sein, der er mal war.«
    Der Raum war unzulänglich beleuchtet. Eine kleine Stehlampe beschien ein rechteckiges Glasbassin, das mit einer sumpfgrünen Flüssigkeit gefüllt war. Das Bassin war nicht sehr hoch, nur etwa sechzig Zentimeter, und im ersten Moment hielt ich es versehentlich für einen Sarg.
    Ich hatte so etwas schon einmal gesehen. Die Gestaltwandler nannten es »Tank« – eine Wiederherstellungsapparatur, erfunden von Dr. Doolittle, dem Haus- und Hofarzt des Rudels.
    Ein nackter Körper lag in der grünen Flüssigkeit. Über Infusionsschläuche war er an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen.
    In den fünfundzwanzig Jahren meines Lebens hatte ich nie einen Gestaltwandler gesehen, der künstlich am Leben erhalten werden musste.
    Ich kniete vor dem Tank nieder. Mir stockte der Atem.
    Derek befand sich in einem Drahtverhau. Tiefrote Schwellungen zogen sich an seinem Körper über die Stellen, an denen die Knochen gebrochen waren und die misshandelten Muskeln nicht mehr heilen wollten. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies vollkommen zerschmettert, sein ganzes Schienbein bestand nur noch aus violetten Wunden und dunkelgrauen Streifen. Ein weiterer violetter Fleck zog sich über seinen linken Oberschenkel – der Femur , der Oberschenkelknochen, der kräftigste Knochen im Leib eines Menschen, war wie ein Zahnstocher in der Mitte entzweigebrochen.
    Zwei Brüche hatten Narben an Dereks rechtem Arm hinterlassen: über dem Ellbogen und am Handgelenk. Ähnliche Spuren waren am linken Arm zu sehen. Die unmenschliche Akribie eines Geistes, der das Bedürfnis verspüren konnte, jemandem beide Arme an den gleichen Stellen zu brechen, ließ mich mit den Zähnen knirschen.
    Mein Herzschlag verlangsamte sich. Mein Kopf wurde heiß, meine Fingerspitzen kalt. Die Atemluft fühlte sich in meiner Lunge eiskalt an. Das war nicht nur eine Schlägerei gewesen. Das war eine Zurschaustellung. Eine bewusste Demonstration von Grausamkeit und Hass. Sie hatten ihn so übel zugerichtet, als wollten sie ihn vollkommen auslöschen.
    In mir kochte Wut hoch, und ich ballte die Fäuste so fest, dass sich mir die Fingernägel in die Handflächen gruben.
    Dunkelviolette und graue Streifen zogen sich über Dereks Brust und zum Halsansatz hinauf, der in einem Stützapparat ruhte. Eine klaffende Wunde verlief quer über seinen Oberkörper, von der linken Flanke über die Brust bis zur rechten Schulter. Und diese Wunde war schwarz. Nicht grau, nicht blutrot – schwarz.
    Ich sah ihm ins Gesicht. Er hatte kein Gesicht mehr. Es war nur noch ein Gemenge aus gebrochenen Knochen und rohem, mit grauen Stellen durchzogenem Fleisch, so als hätte jemand versucht, aus Hackfleisch ein Gesicht zu formen, und es dann an der frischen Luft verwesen lassen.
    Zorn packte mich. Euch kriege ich. Euch kriege ich, ihr Drecksäue, und dann werdet ihr mir dafür büßen. Ich reiße euch mit bloßen Händen in Stücke .
    Alle rationalen Gedanken wichen aus meinem Hirn. Der Raum schrumpfte zusammen, als würde ich erblinden, und in mir toste und brüllte die Wut. Ich wollte schreien, wollte irgendwas kurz und klein schlagen, aber mein Körper machte nicht mit. Ich fühlte mich vollkommen macht- und hilflos, und das war ein absolut schreckliches Gefühl.
    Lange Minuten vergingen. Derek lag immer noch in dem mit grüner Flüssigkeit gefüllten

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